NJW-Editorial
„Europäische Verhältnisse“
NJW-Editorial

Die Geschichte des kollektiven Rechtsschutzes ist lang und unvollendet. Ursächlich dafür sind auch die Sorgen vor den viel zitierten „amerikanischen Verhältnissen“, die häufig unbegründet sind. Künftig sollte man eher die „europäischen Verhältnisse“ in den Blick nehmen, wenn nämlich die Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie einen Wettbewerb der kollektiven Rechtsdurchsetzung in der EU auslösen wird. Ob die deutsche Variante der Abhilfeklage darin bestehen wird, ist keinesfalls ausgemacht.

20. Apr 2023

Die Geschichte des kollektiven Rechtsschutzes in Europa und Deutschland war lange Zeit eine unvollendete Leidensgeschichte. Immer dann, wenn Verbraucherschutzorganisationen zu Recht auf spürbare Rechtsschutzdefizite bei der Kompensation von Streuschäden in den verschiedenen europäischen Rechtsordnungen hinwiesen (Schaub, JZ 2011, 13), wurden Warnungen vor dem angeblichen Einzug „amerikanischer Verhältnisse“ laut. Diese Warnungen wurden oft durch rechtliche Legenden wie „Punitive ­Damages“ in Millionenhöhe für Brühverletzungen durch heißen Kaffee (Liebeck v. ­McDonald’s Restaurants, 1994) genährt. Der europäische Bürger war jedoch zunehmend verwundert, wie es den USA in den letzten Jahren gelang, bei globalen Rechtsverletzungen schnell und unbürokratisch Regress für Betroffene in den USA zu sichern – und das nicht nur bei „Dieselgate“, sondern auch in technisch komplexeren Sachverhalten wie dem Facebook-Cambridge-Analytica-Skandal. Es schien zuletzt, als hätten amerikanische Verbraucher das bessere Los gezogen.

Nach jahrzehntelanger Geburt wurde 2020 die Verbandsklagenrichtlinie (EU) 2020/1828 verabschiedet (Hornkohl, EuCML 2021, 189). Ihr Ziel: Europäischen Verbrauchern ein hohes Schutzniveau nicht nur auf dem Papier zu versprechen, sondern auch die Waffen auszuhändigen, um es zu erstreiten (Gsell/Meller-Hannich, JZ 2022, 421; Ruschemeier, MMR 2021, 942). Nunmehr liegt ein Regierungsentwurf für ein Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz (VRUG) vor. Leider atmet er insgesamt einen bürokratischen Geist, den man angesichts der aktuellen Färbung des Bundesjustizministeriums nicht erwartet hätte. Klageberechtigte Stellen (deutsche und europäische) können ­neben Feststellung (MFK) und Unterlassung (UKlaG) künftig auch Abhilfe einfordern, wozu alle vertraglichen und deliktischen Ansprüche zählen (Thönissen, JZ 2022, 430). Das Abhilfeklageverfahren erfordert eine aktive Registrierung von Verbrauchern im Verbandsklageregister, was jedoch nur bis zu zwei Monate nach dem ersten Termin zur mündlichen Verhandlung möglich sein soll. Der Begründung fehlen indes Argumente, warum Verbraucher nicht den Verfahrensausgang abwarten dürfen sollen. ­Unternehmen kennen den Kreis der potenziell Geschädigten genau und sind spätestens mit Klage­erhebung verpflichtet, eventuelle Prozessrisiken ordnungsgemäß zu bilanzieren.

Ob die deutsche Variante der Abhilfeklage im europäischen Wettbewerb bestehen wird, ist noch unsicher. Deutsche Verbraucher können sich Verbandsklagen in anderen Ländern wie den Niederlanden, Belgien oder Portugal anschließen, die in den Medien als attraktive Gerichtsstände mit möglichen Kompensationen für digitale Streuschäden hervorgehoben werden. Sollten europäische Nachbarländer bei der Rechtsdurchsetzung besser abschneiden als Deutschland, verliert endlich auch der Vergleich mit „amerikanischen Verhältnissen“ an Überzeugungskraft.

Rechtsanwalt Peter Hense ist Gründungspartner von Spirit Legal, Leipzig.