NJW-Editorial
EU-Gesetze
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Ab dem 17.2.​2024 gilt das EU-Gesetz über digitale Dienste. Und das Gesetz über digitale Märkte gibt es schon seit Mai 2023. Prof. Dr. Gernot Sydow reibt sich in unserem Editorial verwundert die Augen: Seit wann erlässt die EU Gesetze?

1. Feb 2024

Ab dem 17.2.​2024 gilt das EU-Gesetz über digitale Dienste. Das Gesetz über Künst­liche Intelligenz steht kurz vor der Verabschiedung, das Gesetz über digitale Märkte gilt schon seit Mai 2023. Man reibt sich verwundert die Augen: Seit wann erlässt die Europäische Union Gesetze? Die Norm über die EU-Rechtsakte, Art. 288 AEUV, ist ­eigentlich eindeutig: Danach nehmen die EU-Organe Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an. Besser wäre „adopt“ bzw. „adopter“ mit „erlassen“ übersetzt worden. Aber sei’s drum. Das, was erlassen (bzw. angenommen) wird, sind Verordnungen und Richtlinien, aber keine Gesetze.

Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. So definiert Art. 288 II AEUV ihre Rechtswirkungen. Das entspricht dem, was im ­staatlichen Kontext Gesetze leisten. Doch die EU-Verträge meiden diesen Begriff. Und sie meiden ihn bewusst, um jeden Anschein einer Usurpation staatlicher Befugnisse zu vermeiden.

In den Gründungsjahren der Europäischen Gemeinschaften war diese technokratische Terminologie angemessen für das, was Hohe Behörde und Ministerrat taten. Doch heute? Die Gesetzgebungsbefugnisse der EU überragen in zahlreichen Bereichen die verbliebenen Kompetenzen der Mitgliedstaaten. Da müsste man doch auch richtige ­Gesetze erlassen können, mag sich mancher denken. Der Europäische Verfassungs­vertrag von 2004 hatte das in der Tat vorgesehen: Art. I-33 wollte „Verordnung“ durch „Europäisches Gesetz“ ersetzen. Doch der Verfassungsvertrag ist gescheitert.

Was also tun? Dem europäischen Gesetzgeber fehlt es nicht an Geschick. Oder ist es List? Das Digitale-Dienste-Gesetz heißt jedenfalls in Vollform ganz korrekt: Verordnung (EU) 2022/2065 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste. „Gesetz über digi­tale Dienste“ ist nur ein Klammerzusatz, eine amtlich definierte Kurzbezeichnung. Auch die englische Kurzform lautet „Digital Services Act“, so als ob das Westminster Parliament ihn erlassen hätte. In der Praxis setzt sich natürlich diese Kurzform durch.

Ganz geheuer war dem EU-Gesetzgeber diese Missachtung des Vertragswortlauts aber wohl selbst nicht: In der französischen Fassung steht auch in der Kurzform „règlement“ und nicht etwa „loi“. Eine Gesetzesterminologie findet sich nur in der deutschen, der englischen, der polnischen, der kroatischen und der griechischen Fassung, warum auch immer. Die anderen Sprachfassungen – Gälisch wurde nicht überprüft – respektieren brav Art. 288 AEUV, auch für die Kurzform. Da wundert man sich ein zweites Mal: Wenn schon eine sachlich sinnvolle, wenngleich reichlich eigenmächtige Neuerung, dann doch konsequent statt nur halbherzig.

Prof. Dr. Gernot Sydow, M. A., ist Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Universität Münster.