Anmerkung von
Rechtsanwältin Christel von der Decken, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 04/2022 vom 18.02.2022
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Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über die teilweise Rücknahme eines Altersrentenbescheides und einer sich daraus ergebenden Erstattungsforderung von 4.508 EUR.
Der 1953 geborene Kläger war nach einer Berufsausbildung zum Maler zuletzt 30 Jahre als Gärtner rentenversicherungspflichtig beschäftigt. 1962 wurde er durch Urteil des Amtsgerichts geschieden. Im Scheidungsurteil wurde ein Versorgungsausgleich zu seinen Lasten festgelegt. Der Kläger beantragte 2016 die Gewährung einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte und gab im Antragsformular zutreffend an, dass ein Versorgungsausgleich durchgeführt worden sei. Die Beklagte erließ einen Bescheid über die Altersrente, ohne den Versorgungsausgleich zu berücksichtigen. Sie gewährte eine Rente mit einem monatlichen Zahlbetrag von zunächst 1.320 EUR und führte auf Blatt 28 des Bescheides aus, dass sich aus dem Versorgungsausgleich ein Zuschlag an Entgeltpunkten ergebe. Anlässlich der Rentenantragstellung der früheren Ehefrau des Klägers registrierte die Beklagte die Unrichtigkeit der Durchführung des Versorgungsausgleichs und die hieraus folgende rechnerische Unrichtigkeit der dem Kläger bewilligten Rente. Nach Anhörung erging der angefochtene Bescheid, mit dem die Beklagte überzahlte Rentenleistungen nur in einem Umfang von 2/3 der Gesamthöhe zurückverlangte wegen ihres eigenen „Mitverschuldens“. In der Begründung heißt es, der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen. Die für eine Rücknahme geltenden Fristen seien nicht abgelaufen und auch eine Ermessensprüfung führe zu keinem anderen Ergebnis.
Dagegen richtet sich die Klage des Klägers, der geltend macht, dass für ihn persönlich als juristischem Laien die fehlerhafte Durchführung des Versorgungsausgleichs im Zuge der 25 Jahre zuvor veranlassten Übertragung der Rentenanwartschaften nicht erkennbar gewesen sei.
Entscheidung
Das SG hebt den angefochtenen Bescheid auf, soweit es um eine rückwirkende Änderung geht. Durch das Anhörungsschreiben vom Oktober 2019 sei der Kläger informiert. Nun könne er nicht mehr auf die Richtigkeit des ursprünglichen Altersrentenbescheides vertrauen. Ab dem darauffolgenden Monat sei die Rente zu Recht gekürzt.
Im Übrigen ist die Klage begründet, weil der ursprüngliche Rentenbescheid zwar rechtswidrig war, der Kläger sich aber auf Vertrauensschutz nach § 45 SGB X berufen kann. Er hat die ihm ausgezahlten Rentenleistungen gutgläubig verbraucht. Bei Erhalt des Rentenbescheides bestand keine fahrlässige Unkenntnis über die Rechtswidrigkeit. Ein für die Annahme grober Fahrlässigkeit erforderlicher besonders schwerer Sorgfaltspflichtverstoß ist anzunehmen, wenn einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt worden sind und nicht beachtet wurde, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Einen solchen Verhaltensvorwurf kann das Gericht hier nicht erkennen. Auch wenn man grundsätzlich davon ausgeht, dass Adressaten eines Verwaltungsaktes gehalten sind, den Bewilligungsbescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, ist im konkreten Fall zu berücksichtigen, dass die monatliche Rente keineswegs so hoch war, dass irgendein Leser allein deshalb von einer fehlerhaften Berechnung hätte ausgehen müssen. Ein fachkundiger Leser hätte bei der Lektüre erkannt, dass die Rente unzutreffend berechnet wurde. Das genügt aber gerade nicht, um den Verhaltensvorwurf der groben Fahrlässigkeit im Falle des Klägers zu begründen. Maßgeblich ist die individuelle Einsichts- und Urteilsfähigkeit des jeweiligen Adressaten. Einem Leistungsempfänger kann nur dann grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, wenn ihm der Fehler nach seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten geradezu in die „Augen springt“.
Das Urteil diskutiert verschiedene Entscheidungen, die die grobe Fahrlässigkeit bejaht haben. Vorliegend ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger nicht in der Lage war, die Fehlerhaftigkeit der Berechnung aus der Begründung zu erkennen. Der Kläger hat seine schulische Laufbahn bereits mit 14 Jahren beendet und war dann als Gärtner 30 Jahre lang tätig. Gemessen an einer derartigen persönlichen Bildungsbiographie und den äußerst geringen Anforderungen jahrzehntelanger rein körperlicher Berufstätigkeiten liegt es fern, von ihm eine verständige Lektüre eines mehr als 34-seitigen Rentenbescheides zu erwarten.
Praxishinweis
1. Ein Grenzfall: Dem Kläger war bekannt, dass durch seine Scheidung ein Versorgungsausgleich zu seinen Lasten durchgeführt worden war. Dem Kläger sind vor dem Rentenbescheid Rentenauskünfte erteilt worden. Eigentlich hätte auch damals schon auf die Folgen des Versorgungsausgleichs hingewiesen werden müssen. Das Urteil spekuliert ausführlich darüber, ob Berufsrichter – auch angesichts der begrenzten Dienstzeit – bereit und in der Lage sind, so lange Rentenbescheide wirklich zu lesen und zu überprüfen. Eine Betrachtung, die in der Verwaltungspraxis so nicht geteilt wird. Überzahlungen gibt es nicht nur bei fehlerhafter Durchführung des Versorgungsausgleichs, sondern auch bei übersehenen Einkünften, die anzurechnen sind, oder bei fehlerhafter Beurteilung des Krankenversicherungsstatus.
2. Das LSG Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 04.01.2022 (BeckRS 2022, 475) einen Aufhebungsbescheid aufgehoben, weil dieser zu Unrecht auf § 48 SGB X gestützt wurde und nicht in einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X umgedeutet werden kann.
SG Karlsruhe, Urteil vom 17.12.2021 - S 12 R 1017/21, BeckRS 2021, 41739