Urteilsanalyse
Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Urteilsanalyse
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Der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kann nach einem Urteil des BAG erschüttert sein, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.

11. Jan 2024

Anmerkung von

RAin Dr. Doris-Maria Schuster, Gleiss Lutz, Hamburg

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 01/2024 vom 11.01.2024

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Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Kläger war seit März 2021 als Helfer bei der Beklagten beschäftigt. Er reichte am 2.5.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 2. bis zum 6.5.2022 ein. Am 2.5. kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31.5.2022 mit Schreiben, das dem Kläger am 3.5. zuging. Durch Folgebescheinigungen vom 6. und vom 20.5. wurde die fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 20. und bis zum 31.5.2022 festgestellt. Ab dem 1.6.2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 1.5. bis zum 31.5. mit der Begründung, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert. Die Vorinstanzen haben der auf Entgeltfortzahlung gerichteten Klage für den gesamten Zeitraum stattgegeben.

Entscheidung

Die Revision der Beklagten hatte teilweise – bezogen auf den Zeitraum vom 7. bis zum 31.5. – Erfolg. Nach allgemeinen Grundsätzen trage der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen der Entgeltfortzahlung. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Der Arbeitgeber könne den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlege und ggf. beweise, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben. Dabei sei nicht maßgeblich, von wem die Kündigung ausgehe und ob eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen eingereicht werden. Es müsse stets eine Würdigung der Gesamtumstände im Einzelfall vorgenommen werden. Hiernach sei der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 2.5. nicht erschüttert. Der Kläger habe bei der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nichts von der Kündigung gewusst, sodass keine zeitliche Koinzidenz zwischen der Kündigung und der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gegeben sei. Bezüglich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 6. und vom 20.5. sei der Beweiswert allerdings erschüttert. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hätten passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst und der Kläger habe unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen. Dies führe dazu, dass ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Klägers bestünden. Damit trage der Kläger für den Zeitraum vom 7. bis zum 31.5. nun wieder die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit.

Praxishinweis

Das BAG führt seine Rechtsprechung fort, wonach der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch den Vortrag ernsthafter Zweifel erschüttert werden kann (BAG, ArbRAktuell 2021, 550). Diese Entwicklung ist zu begrüßen, weil ein Arbeitgeber im Falle einer Erkrankung i.d.R. keine Informationen zur Art und Ausmaß der Erkrankung des Mitarbeiters hat. Deshalb sind keine allzu hohen Anforderungen an dessen Einwendungen zur Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu stellen. Vielmehr kann nach Ausspruch einer Kündigung eine über die komplette Kündigungsfrist andauernde Arbeitsunfähigkeit mit anschließender Genesung pünktlich zum Antritt einer neuen Beschäftigung ausreichen, um den Beweiswert der Bescheinigung zu erschüttern. Allein die Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führt jedoch nicht zum automatischen Entfallen des Entgeltfortzahlungsanspruchs. In einer solchen Situation ist es dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, die den Schluss auf eine Erkrankung zulassen. Das können etwa Einlassungen zur Art und zum Verlauf der Erkrankung sein oder eine Bescheinigung oder Zeugenaussage des behandelnden Arztes. Es liegt dann wieder am Arbeitgeber den Wert dieser Beweismittel zu erschüttern.

Die Anmerkung beruht auf der Pressemitteilung des Gerichts (FD-ArbR 2023, 821700).

BAG, Urteil vom 13.12.2023 – 5 AZR 137/23