Urteilsanalyse
Erörterung der Möglichkeit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt in geeigneten Fällen
Urteilsanalyse
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Immer dann, wenn sich nach dem festgestellten Sachverhalt die Anwendung des § 59 StGB aufdrängt, müssen nach einem Beschluss des OLG Hamm die Urteilsgründe - schon nach den materiellrechtlichen Begründungsanforderungen - ergeben, aus welchem Grunde das Tatgericht den Angeklagten dennoch zu einer Strafe verurteilt und nicht nur verwarnt hat.

16. Jul 2021

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Dr. Nicolas Böhm, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 14/2021 vom 08.07.2021

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Sachverhalt

Das LG hat A in der Berufungsinstanz wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 15 EUR verurteilt. Nach den Feststellungen versetzte A seinem dreizehnjährigen Sohn B mit der flachen Hand eine so heftige Ohrfeige, dass sich auf der Wange des Kindes ein geröteter, geschwollener Handabdruck abzeichnete. Trotz verbaler Ermahnung hatte B zuvor seinen Vater am Fernsehen gehindert. Als A ihn daraufhin zur Seite schob, trat ihm B in die Leistengegend, was bei A infolge einer Vorerkrankung sehr starke Schmerzen erzeugte, worauf es zu der Ohrfeige kam. Strafschärfend wertete das LG, dass zwischen A und B ein krasses Missverhältnis der Kräfte bestand. Gegen diese Verurteilung wandte sich A und rügte die Verletzung materiellen Rechts in Verbindung mit § 267 StPO.

Entscheidung

Wegen eines beachtlichen Rechtsfehlers zu Lasten des A hob das OLG das Urteil des LG im Rechtsfolgenausspruch mit den diesem zu Grunde liegenden Feststellungen auf.

Bereits bedenklich sei, dass das LG die körperliche Überlegenheit des A (einzig) strafschärfend gewertet habe. Dieser Umstand sei für sich genommen bezogen auf die Schuld des Täters neutral und zeige lediglich einen naturgegebenen Unterschied auf. Jedenfalls aber seien die Strafzumessungserwägungen lückenhaft.

Immer dann, wenn sich nach dem festgestellten Sachverhalt die Anwendung des § 59 StGB aufdränge, müssten die Urteilsgründe ergeben, weshalb das Gericht den Täter dennoch zu einer Strafe verurteile und nicht nur verwarne. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt gem. § 59 StGB habe zwar Ausnahmecharakter und gelte idR. nur für den unteren Kriminalitätsbereich. Die Voraussetzungen des § 59 Abs. 1 Nr. 2 StGB seien aber dann gegeben, wenn bestimmte Umstände die zu beurteilende Tat von den Durchschnittsfällen deutlich abhöben und diesen gegenüber das Tatunrecht, die Schuld und die Strafbedürftigkeit wesentlich minderten, und deshalb einen Verzicht auf die Verurteilung angezeigt erscheinen ließen.

Besondere in der Person des Täters liegende Umstände seien zu bejahen, wenn sich die Strafe für ihn sozial unverhältnismäßig hart auswirke oder er durch die bloße Verurteilung in unverhältnismäßige Schwierigkeiten komme. Besondere Umstände in der Tat könnten darin liegen, dass die Tathandlung nach Umfang und Intensität ungewöhnlich geringes Gewicht habe oder einer unerwarteten und unausweichlichen Konfliktlage entspringe, die an Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe heranreiche. Weiter könnten auch solche Umstände besonderen Charakter tragen, die im Vergleich mit gewöhnlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen von herausragendem Gewicht seien, und sei es nur durch das Zusammentreffen mehrerer, für sich allein jeweils nur durchschnittlicher Milderungsgründe.

Angesichts der Vielzahl der A zu Gute gehaltenen Strafmilderungsgründe (keine Vorstrafen, Geständnis, angespannte familiäre Situation angesichts der Covid-19-Infektionsschutzmaßnahmen, Vorverhalten des B mit starken Schmerzen für A, spontaner Tatentschluss, zehnmonatiges Zurückliegen der Tat) und nur des o.g. Strafschärfungsgrundes sei die Erörterung des § 59 StGB geboten gewesen.

Praxishinweis

Geht es darum, ein Strafverfahren gegen eine (vermeintlich) schuldige Person ohne Verhängung einer Kriminalstrafe zu beenden, geht dies zumeist mithilfe der §§ 153 ff. StPO vonstatten. Aber auch das StGB kennt spezialpräventive Möglichkeiten einer Verfahrensbeendigung, wie das Absehen von Strafe gem. § 60 StGB oder die Verwarnung mit Strafvorbehalt gem. § 59 StGB. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt hat dabei u.a. den Vorteil, dass sie als strafrechtliches Reaktionsmittel sui generis (es wird keine Strafe verhängt, sondern dies soll gerade verhindert werden) auch dann Anwendung finden kann, wenn etwa die StA die Zustimmung zur Einstellung gem. §§ 153 ff. StPO verweigert (zu alledem LK-StGB/Hubrach, Vor. § 59 Rn. 1 ff.). Dass – trotz des bekannten Falls „Daschner“ (Folterandrohung zur Aufenthaltsermittlung eines entführten Kindes, LG Frankfurt a.M. NJW 2004, 692 ff.) – § 59 StGB in praxi selten thematisiert und zurückhaltend angewandt wird, stellt daher einen fragwürdigen Rechtszustand dar.

Dem entgegenzutreten ist vor allem auch die Verteidigung aufgerufen, indem sie die Möglichkeit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt im Blick hat und in geeigneten Fällen zum Bestandteil der Verteidigungsstrategie macht. Hierfür sollte sie sich das vorliegende Urteil des OLG zunutze machen.

Mit den mustergültigen Ausführungen zeigt der Senat die Voraussetzungen des § 59 StGB auf und stellt klar, dass die verfahrensgegenständliche Tat sich angesichts der festgestellten Strafmilderungsgründe sowohl im Hinblick auf deren Gewicht also auch deren Zahl ganz erheblich von Durchschnittsfällen abhebt. In solchen Fällen hat sich das Tatgericht mit der Möglichkeit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt zu befassen; revisibel ist ein Verstoß gegen § 59 StGB, da es sich bei der Strafzumessung um die Domäne des Tatgerichts handelt, allerdings nicht in jedem Fall (hierzu BeckOK-StGB/v.Heintschel-Heinegg, § 59 Rn. 34 ff.).

Im Übrigen sei auf den weiten Anwendungsbereich der Norm hingewiesen; § 59 StGB ist nicht auf eine bestimmte Art des begangenen Delikts begrenzt und kann, im Gegensatz zu § 153a StPO, zumindest theoretisch auch bei Verbrechenstatbeständen zur Anwendung kommen. Fälle, in denen die Verwarnung mit Strafvorbehalt wenigstens erwogen wurde, sind zum Beispiel (Übersicht bei MüKo-StGB/Groß/Kulhanek, § 59 Rn. 12): überlange Verfahrensdauer bei Steuerhinterziehung (BGH BeckRS 1994, 31084804), Strafbarkeit des sog. Containerns (BayObLG NStZ-RR 2020, 104 ff.), Bemühen des Täters um Verletzte bei selbst verursachtem Verkehrsunfall (OLG Zweibrücken NStZ 1984, 312 f.), fahrlässiger Verstoß gegen das BtmG bei gewerblichem Handel mit Hanfprodukten (LG Ravensburg, NStZ 1998, 306 f.).

OLG Hamm, Beschluss vom 27.05.2021 - 4 RVs 54/21 (LG Paderborn), BeckRS 2021, 13780