Anmerkung von
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Dr. Manuel Lorenz, Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz
Aus beck-fachdienst Strafrecht 02/2022 vom 28.01.2022
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Sachverhalt
Dem Angeklagten (A) wird vorgeworfen, seine Lebensgefährtin im Februar 2020 in deren Wohnung zum Geschlechtsverkehr gezwungen und sie dabei unter anderem mit beiden Händen gewürgt zu haben. Das AG erließ im August 2020 gegen den A einen auf die Haftgründe der Flucht und der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl, weil dieser sich, nachdem er von der Geschädigten mit dem Tatvorwurf konfrontiert worden sei, verborgen gehalten habe. Nach der erfolgten Festnahme im November 2020 verbüßte der A zunächst eine Ersatzfreiheitsstrafe, an die sich die Untersuchungshaft anschloss. Die StA erhob, ebenfalls im November 2020, auf der Grundlage eines gegenüber dem Haftbefehl unveränderten Sachverhalts Anklage zum LG Berlin. In einem Haftprüfungstermin im Dezember 2020 legte der A eine amtliche Meldebestätigung vor, wonach er seit Mai 2020 in Berlin gemeldet war. Daraufhin verschonte ihn die Kammer vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft und gab ihm unter anderem auf, sich einmal wöchentlich bei der zuständigen Polizeidienststelle zu melden. Im Januar 2021 erging, ohne Änderungen im Vergleich zur Anklage, der Eröffnungsbeschluss. Das Hauptverfahren fand in der Zeit von März 2021 – September 2021 statt, zu denen der A beanstandungsfrei erschienen ist. Der A wurde wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, über die von der StA beantragte Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten hinaus, zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Ferner hat die Kammer unter Aufhebung des Haftverschonungsbeschlusses den Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt und den A noch im Saal verhaften lassen. Der A wendete sich mit seiner Beschwerde gegen die erneute Invollzugsetzung des Haftbefehls.
Entscheidung
Auf die Beschwerde des A wird der Vollzug des Haftbefehls des AG in Gestalt des Beschlusses des LG Berlin unter Aufrechterhaltung der in dem Haftverschonungsbeschluss des LG Berlin angeordneten Meldeauflage ausgesetzt; im Übrigen wird die Beschwerde verworfen.
Die für die Anordnung der Untersuchungshaft notwendigen Voraussetzungen seien gegeben. Der (bereits nicht beanstandete) dringende Tatverdacht ergäbe sich bereits daraus, dass der A schuldig gesprochen worden sei. Der Haftgrund der Fluchtgefahr sie begründet, da der A damit rechnen müsse, dass er bei dem Ergehen eines rechtskräftigen Urteils einen Strafrest von annähernd fünf Jahren zu verbüßen habe, was ihm einen erheblichen Anreiz böte, sich dem Verfahren durch Flucht zu entziehen. Dies gelte insbesondere, weil mit einer Strafaussetzung zur Bewährung aufgrund der bei Sexualstraftaten erhöhten Prognoseanforderungen nicht zu rechnen sei. Ferner seien auch die persönlichen und beruflichen Verhältnisse des A nicht dazu geeignet, die Fluchtgefahr entscheidend zu mindern. Bei dem A handele es sich um einen südafrikanischen Staatsangehörigen, der zwar bereits seit 2003 in Deutschland und seit 2010 in Berlin lebe, jedoch bereits in 2016 für ca. sechs Monate in Südafrika gewesen sei. Er verfüge in Berlin über keine eigene Wohnung, sei ohne partnerschaftliche Bindung und habe zu zwei seiner insgesamt drei Kinder zuletzt vor über einem Jahr Kontakt gehabt. Beruflich sei er, bis zu seiner erneuten Inhaftierung, an drei Tagen in der Woche als Barkeeper und Kellner tätig gewesen.
Der erneuten Invollzugsetzung des Haftbefehls stehe jedoch die Norm des § 116 Abs. 4 StPO entgegen, wonach bei vorangegangener Haftverschonung der Vollzug des Haftbefehls nur unter besonderen Voraussetzungen angeordnet werden dürfe. Da der A sämtlichen Auflagen nachgekommen und zur Hauptverhandlung an allen Sitzungstagen beanstandungsfrei erschienen sei, seien § 116 Abs. 4 Nr. 1 und 2 StPO ersichtlich nicht erfüllt. Auch eine Inhaftierung in Folge neu hervorgetretener Umstände, welche die Verhaftung erforderlich machten (§ 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO) käme vorliegend nicht in Betracht.
„Neu“ im Sinne der Norm seien nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschütterten, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Ein nach Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der StA könnten zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setze jedoch voraus, dass der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der StA beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des A von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung abweiche und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöhe, was nach Abwägung und Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu ermitteln sei. Erforderlich seien nachvollziehbare Feststellungen dazu, von welcher Straferwartung der A im Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls ausgegangen sei. Selbst der Umstand, dass der um ein günstiges Ergebnis bemühte A infolge des Schlussantrags der StA oder gar durch das Urteil selbst die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen müsse, könne einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern ihm - wie hier - die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs stets vor Augen gestanden habe und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachgekommen sei. Der erneute Vollzug des Haftbefehls aufgrund von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO käme zwar auch in Betracht, wenn ein Angeklagter unerwartet streng verurteilt würde. War dagegen schon zu diesem Zeitpunkt mit der später ausgesprochenen - auch höheren - Strafe zu rechnen und habe der Angeklagte die ihm erteilten Auflagen korrekt befolgt, so läge gleichwohl kein Fall des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO vor.
Vorliegend habe sich am Tatvorwurf des A gegenüber dem Inhalt des Haftbefehls nichts geändert. A habe mit der Höhe der Freiheitsstrafe von fünf Jahren, insbesondere unter Berücksichtigung des Strafrahmens für eine Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1 und 5 Nr. 1 und Nr. 2, 6 Nr. 1 StGB von zwei bis zu 15 Jahren, bereits rechnen müssen. Er habe sich, obwohl er von der Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe ausgehen musste, stets dem Verfahren weiter zur Verfügung gehalten.
Praxishinweis
Das KG stellt die Grundsätze der Aussetzung und der erneuten Invollzugsetzung eines Haftbefehls wegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr anschaulich dar und bestätigt die bisherige Rechtsprechungspraxis. Dabei trägt es insbesondere der restriktiv anzuwendenden Norm des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO Rechnung. Soll ein Haftbefehl erneut in Vollzug gesetzt werden, so ergeben sich auch nach den Ausführungen des KG, insbesondere im Hinblick auf die grundrechtlich geschützten Interessen des Angeklagten hohe Hürden. So bedarf es selbst für den Fall, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr aufgrund der Einzelfallumstände anzunehmen ist einer gesonderten Darlegung der Gründe für eine erneute Invollzugsetzung des Haftbefehls. Nicht ausschließlich ausreichend dürften dabei private und berufliche Lebensumstände beim Angeklagten, sowie eine zwischenzeitlich verhängte hohe Freiheitsstrafe sein, die für eine mögliche Flucht des Angeklagten sprechen könnten, sofern dieser mit seinem Verhalten während der gesamten Dauer des Verfahrens nach Haftverschonung dokumentiert hat, dass er gewillt ist sich dem Strafverfahren mitsamt einer möglichen Strafvollstreckung zur Verfügung zu halten. Dem Angeklagten ist folglich eindringlich zu raten, sich entsprechend der ihm auferlegten Auflagen zu verhalten. Für den Verteidiger erlaubt die Rechtsprechung eine erleichterte Begründung der Verhinderung der erneuten Invollzugsetzung der Freiheitsstrafe dahingehend, als dass dieser das kooperative Verhalten seines Mandanten vorbringen kann, wenn nicht erhebliche Umstände des Einzelfalls (insbesondere die Verhängung einer deutlich schweren als vom Angeklagten erwarteten Strafe) eine andere Annahme rechtfertigen.
KG, Beschluss vom 29.10.2021 - 2 Ws 114/21 - 121 AR 222/21 (LG Berlin), BeckRS 2021, 39434