Urteilsanalyse

Er­for­der­lich­keit eines Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­tens bei Ei­gen­be­darfs­kün­di­gung trotz Vor­la­ge ärzt­li­cher At­tes­te durch den Mie­ter
Urteilsanalyse
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Auch wenn ein Mie­ter seine Be­haup­tung, ihm sei ein Umzug wegen einer be­stehen­den Er­kran­kung nicht zu­zu­mu­ten, unter Vor­la­ge be­stä­ti­gen­der ärzt­li­cher At­tes­te gel­tend macht, ist im Falle des Be­strei­tens die­ses Vor­trags nach An­sicht des BGH re­gel­mä­ßig die Ein­ho­lung eines Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­tens zu der Art, dem Um­fang und den kon­kre­ten Aus­wir­kun­gen der be­schrie­be­nen Er­kran­kung auf die Le­bens­füh­rung des be­trof­fe­nen Mie­ters im All­ge­mei­nen und im Be­son­de­ren im Fall des Ver­lusts der ver­trau­ten Um­ge­bung er­for­der­lich.

21. Jul 2021

An­mer­kung von
Rechts­an­walt Prof. Dr. Wolf-Rü­di­ger Bub und Rechts­an­walt Ni­ko­lay Pra­ma­tar­off
Rechts­an­wäl­te Bub, Mem­min­ger & Part­ner, Mün­chen, Frank­furt a.M.

Aus beck-fach­dienst Miet- und Woh­nungs­ei­gen­tums­recht 14/2021 vom 15.07.2021

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Miet- und Woh­nungs­ei­gen­tums­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Miet- und Woh­nungs­ei­gen­tums­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de

Sach­ver­halt

Der im Jahr 1949 ge­bo­re­ne Be­klag­te mie­te­te im Jahr 1986 vom Rechts­vor­gän­ger des Klä­gers eine 85m² große Drei­zim­mer­woh­nung in Ber­lin an. Der Klä­ger kün­dig­te das Miet­ver­hält­nis mit der Be­grün­dung von Ei­gen­be­darf für seine Toch­ter. Der Be­klag­te wi­der­sprach der Kün­di­gung und be­rief sich auf das Vor­lie­gen von Här­te­grün­den; hier­zu legte er im Räu­mungs­pro­zess ärzt­li­che At­tes­te vor.

Das Amts­ge­richt hat die vom Klä­ger er­ho­be­ne Räu­mungs- und Her­aus­ga­be­kla­ge mit der Be­grün­dung ab­ge­wie­sen, die Ei­gen­be­darfs­kün­di­gung sei aus for­mel­len und ma­te­ri­el­len Grün­den un­wirk­sam. Das Land­ge­richt hat die hier­ge­gen ge­rich­te­te Be­ru­fung des Klä­gers zu­rück­ge­wie­sen. Dabei hat es zwar die Ei­gen­be­darfs­kün­di­gung des Klä­gers durch­grei­fen las­sen, je­doch auf den Här­te­ein­wand des Be­klag­ten an­ge­ord­net, dass das zwi­schen den Par­tei­en be­stehen­de Miet­ver­hält­nis zu den bis­he­ri­gen Ver­trags­be­din­gun­gen auf un­be­stimm­te Zeit fort­ge­setzt werde. Ein Gut­ach­ten über die Fol­gen des Um­zugs für den Be­klag­ten sei nicht ein­zu­ho­len, da sich diese be­reits aus den vom Be­klag­ten vor­ge­leg­ten At­tes­ten er­ge­ben. Hier­nach sei die Räu­mungs­un­fä­hig­keit des be­tag­ten Mie­ters aus me­di­zi­ni­scher Sicht nach­ge­wie­sen.

Mit der vom Senat zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on ver­folgt der Klä­ger sein Räu­mungs- und Her­aus­ga­be­be­geh­ren wei­ter.

Ent­schei­dung 

Die Re­vi­si­on hat Er­folg.

Der Räu­mungs­an­spruch des Klä­gers könne nicht al­lein auf Grund­la­ge der vom Be­klag­ten vor­ge­leg­ten At­tes­te ver­neint wer­den. Das Be­ru­fungs­ge­richt hätte diese Be­wer­tung erst nach Ein­ho­lung eines Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­tens zu der Art, dem Um­fang und den kon­kre­ten Aus­wir­kun­gen der vom Be­klag­ten be­haup­te­ten Er­kran­kun­gen vor­neh­men dür­fen.

Die Kün­di­gung er­fül­le die An­for­de­run­gen des § 573 Abs. 3 Satz 1 BGB, ins­be­son­de­re sei ein be­rech­tig­tes In­ter­es­se vom Klä­ger dar­ge­legt.

Nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB könne der Mie­ter einer an sich ge­recht­fer­tig­ten or­dent­li­chen Kün­di­gung des Ver­mie­ters wi­der­spre­chen und von ihm die Fort­set­zung des Miet­ver­hält­nis­ses ver­lan­gen, wenn die Be­en­di­gung des Miet­ver­hält­nis­ses für ihn oder seine Fa­mi­lie eine Härte be­deu­ten würde, die auch unter Wür­di­gung der be­rech­tig­ten In­ter­es­sen des Ver­mie­ters nicht zu recht­fer­ti­gen wäre. Bei der hier­zu vom Ta­trich­ter nach gründ­li­cher und sorg­fäl­ti­ger Sach­ver­halts­fest­stel­lung vor­zu­neh­men­den Ge­wich­tung und Wür­di­gung der bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen und ihrer Sub­sum­ti­on unter die un­be­stimm­ten Rechts­be­grif­fe der ge­nann­ten Be­stim­mung habe das Re­vi­si­ons­ge­richt zwar den ta­trich­ter­li­chen Be­ur­tei­lungs­spiel­raum zu re­spek­tie­ren und könne re­gel­mä­ßig nur über­prü­fen, ob das Be­ru­fungs­ge­richt Rechts­be­grif­fe ver­kannt oder sonst un­zu­tref­fen­de recht­li­che Maß­stä­be an­ge­legt habe, ob es Denk­ge­set­ze und all­ge­mei­ne Er­fah­rungs­sät­ze hin­rei­chend be­ach­tet habe oder ob ihm von der Re­vi­si­on ge­rüg­te Ver­fah­rens­ver­stö­ße un­ter­lau­fen seien, indem es etwa we­sent­li­che Tat­um­stän­de über­se­hen oder nicht voll­stän­dig ge­wür­digt habe. Einer an die­sem Maß­stab aus­ge­rich­te­ten Prü­fung halte die Be­ur­tei­lung des Be­ru­fungs­ge­richts je­doch nicht stand.

Be­reits die An­nah­me, die Be­en­di­gung des Miet­ver­hält­nis­ses be­deu­te für den Be­klag­ten wegen sei­nes fort­ge­schrit­te­nen Al­ters und sei­ner ge­sund­heit­li­chen Ver­fas­sung eine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB, be­ru­he auf we­sent­li­chen, von der Re­vi­si­on ge­rüg­ten Ver­fah­rens­ver­stö­ßen, so dass es an einer trag­fä­hi­gen Tat­sa­chen­grund­la­ge für die Über­zeu­gungs­bil­dung des Be­ru­fungs­ge­richts fehle.

Zwar gelte, dass von einem Mie­ter, der gel­tend mache, ihm sei ein Umzug wegen einer schwe­ren Er­kran­kung nicht zu­zu­mu­ten, als me­di­zi­ni­schem Laien über die Vor­la­ge eines (aus­führ­li­chen) fach­ärzt­li­chen At­tests hin­aus nicht ver­langt wer­den könne, noch wei­te­re - meist nur durch einen Gut­ach­ter zu lie­fern­de - An­ga­ben zu den ge­sund­heit­li­chen Fol­gen, ins­be­son­de­re zu deren Schwe­re und zu der Ernst­haf­tig­keit zu be­fürch­ten­der ge­sund­heit­li­cher Nach­tei­le zu tä­ti­gen. Ge­mes­sen hier­an habe der Be­klag­te sei­ner Sub­stan­ti­ie­rungs­last als der­je­ni­ge, der die Fort­set­zung des Miet­ver­hält­nis­ses wegen einer für ihn un­zu­mut­ba­ren Härte ver­lan­ge, vor­lie­gend ge­nügt. Al­ler­dings habe der Klä­ger die Be­haup­tun­gen des Be­klag­ten zu die­sen at­tes­tier­ten ge­sund­heit­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen wie­der­holt in pro­zes­su­al aus­rei­chen­der Weise be­strit­ten und zum Be­weis - unter Ver­weis auf die Be­weis­last des Be­klag­ten - mehr­fach die Ein­ho­lung eines ent­spre­chen­den ge­richt­li­chen Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­tens be­an­tragt. Auch der Be­klag­te habe die Ein­ho­lung ent­spre­chen­der Gut­ach­ten an­ge­bo­ten, um sei­ner­seits Be­weis für die Er­kran­kun­gen zu brin­gen. Mit­hin hätte das Be­ru­fungs­ge­richt man­gels ei­ge­ner Sach­kun­de nicht al­lein auf­grund der vom Be­klag­ten vor­ge­leg­ten At­tes­te vom Be­stehen der be­haup­te­ten Er­kran­kun­gen aus­ge­hen dür­fen, son­dern hätte viel­mehr ein ent­spre­chen­des ge­richt­li­ches Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten ein­ho­len müs­sen.

Die pau­scha­le Be­grün­dung des Be­ru­fungs­ge­richts, über die vor­ge­leg­ten At­tes­te hin­aus er­schei­ne die Ein­ho­lung eines „wei­te­ren Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­tens […] nicht an­ge­zeigt“ sei zudem schon des­halb ver­fehlt, weil im vor­lie­gen­den Ver­fah­ren erst­ma­lig ein - von bei­den Par­tei­en aus­drück­lich und mehr­fach be­an­trag­tes - Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten zum ge­sund­heit­li­chen Zu­stand des Be­klag­ten und den auf­grund des­sen für ihn mit einem er­zwun­ge­nen Umzug zu er­war­ten­den Kon­se­quen­zen habe ein­ge­holt wer­den sol­len.

In der Folge sei auch die vom Be­ru­fungs­ge­richt vor­ge­nom­me­ne In­ter­es­sen­ab­wä­gung rechts­feh­ler­haft, weil das Be­ru­fungs­ge­richt die Ab­wä­gung auf un­zu­rei­chen­de Tat­sa­chen­fe­stel­lun­gen zum Vor­lie­gen von Här­te­grün­den auf Sei­ten des Be­klag­ten ge­stützt habe und ihm damit auch eine sach­ge­rech­te Ge­wich­tung in der sich an­schlie­ßen­den Ab­wä­gung ge­gen­über den Ver­mie­ter­inter­es­sen nicht mög­lich ge­we­sen sei.

Pra­xis­hin­weis

Der BGH be­stä­tigt seine bis­he­ri­ge Recht­spre­chung (BGH, Ur­teil vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, NJW 2019, 2765), wo­nach das Ge­richt ein Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten auf An­trag – oder bei Feh­len eines Be­weis­an­tritts von Amts wegen – ein­zu­ho­len hat, wenn ein Mie­ter unter Vor­la­ge eines ärzt­li­chen At­tests gel­tend macht, ihm sei ein Umzug wegen einer schwe­ren Er­kran­kung nicht zu­zu­mu­ten und dies vom Ver­mie­ter be­strit­ten wird. Er­for­der­lich sind dabei Fest­stel­lun­gen zur Art, dem Um­fang und den kon­kre­ten Aus­wir­kun­gen der be­schrie­be­nen Er­kran­kung auf die Le­bens­füh­rung des be­trof­fe­nen Mie­ters im All­ge­mei­nen und im Fall des Ver­lusts der ver­trau­ten Um­ge­bung.

Dabei ist auch die Schwe­re und der Grad der Wahr­schein­lich­keit der zu be­fürch­ten­den ge­sund­heit­li­chen Ein­schrän­kun­gen zu klä­ren (BGH, Ur­teil vom 22.05.2019 – VIII ZR 167/17, NJW-RR 2019, 972). Er­folgt dies nicht, kann das Ge­richt keine sach­ge­rech­te In­ter­es­sens­ab­wä­gung vor­neh­men (BGH, Ur­teil vom 15.03.2017 – VIII ZR 270/15, NJW 2017, 1474).

Für ähn­li­che Recht­strei­tig­kei­ten von Be­deu­tung ist auch die vom BGH noch­mals ge­trof­fe­ne Fest­stel­lung, dass bei Feh­len eines Be­weis­an­tritts, etwa die Vor­la­ge von ärzt­li­chen At­tes­ten, das Ge­richt re­gel­mä­ßig von Amts wegen ein Gut­ach­ten ein­zu­ho­len hat. Das ist rich­tig, denn die Be­gut­ach­tung durch Sach­ver­stän­di­ge ist immer dann an­ge­zeigt, wenn der Rich­ter bei der Be­ur­tei­lung ent­schei­dungs­er­heb­li­cher Vor­gän­ge die Gren­zen sei­nes Wis­sens und sei­ner Er­kennt­nis­mög­lich­kei­ten er­reicht hat (BGH, Be­schluss vom 26.05.2020 - VIII ZR 64/19, BeckRS 2020, 13299).

BGH, Ur­teil vom 28.04.2021 - VIII ZR 6/19 (LG Ber­lin), BeckRS 2021, 13387