Urteilsanalyse
Erforderlichkeit einer erneuten Parteianhörung in der Berufungsinstanz
Urteilsanalyse
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Von der Würdigung der Aussage der Partei darf das Rechtsmittelgericht nicht abweichen, ohne die Partei erneut vernommen zu haben. Dies gilt nach einem Beschluss des BGH vom 28.07.2020 auch dann, wenn das Erstgericht die Partei nach § 141 ZPO lediglich informatorisch angehört hat, jedenfalls soweit die Angaben der so gehörten Partei in die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach § 286 I ZPO Eingang gefunden haben und dort in ihrer Glaubhaftigkeit bewertet wurden.

11. Sep 2020

Anmerkung von
Richter am KG Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 18/2020 vom 04.09.2020

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Sachverhalt

K macht gegen B im Wege der Stufenklage Ansprüche auf Erlösbeteiligungen an Anteilsveräußerungen geltend. Er behauptet, die Parteien hätten eine entsprechende Vereinbarung getroffen. Das LG hört die Parteien nach § 141 I 1 ZPO informatorisch an und vernimmt auch 3 Zeugen. Es verurteilt danach B durch Teilurteil, über die Veräußerungsgewinne Rechnung zu legen. Das LG stützt seine Überzeugung, dass die Parteien eine verbindliche Vereinbarung geschlossen haben, auch auf die Anhörungen der Parteien. Auf die Berufung des B weist das OLG die Klage ab. Die Anhörung des K spreche gegen einen verbindlichen Vertragsschluss, da er angegeben habe, dass die von ihm behauptete Vereinbarung durch Handschlag als „Gentlemen's Agreement“ getroffen worden sei. Auch wenn man zugunsten des K unterstelle, dass er darunter eine bindende Vereinbarung verstanden habe, sei angesichts der von ihm geschilderten Situation auf einer Parkbank am Düsseldorfer Rheinufer nicht auszuschließen, dass lediglich er davon (subjektiv) ausgegangen sei, die per Handschlag getroffene Übereinkunft stelle einen verbindlichen, klagbaren Vertrag dar. Die Revision lässt das OLG nicht zu. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde.

Entscheidung: Das OLG hat K‘s Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) verletzt!

Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen sei grds. eine erneute Beweisaufnahme geboten. Insbes. müsse das Berufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gem. § 398 I ZPO vernehmen, wenn es dessen Aussage anders würdigen wolle (Hinweis ua auf BGH NJW 2018, 308 Rn. 9 = FD-ZVR 2017, 396038 mAnm Toussaint). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen könne allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stütze, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage beträfen.

Diese Grundsätze würden nach § 451 ZPO für die Parteivernehmung entsprechend gelten. Auch von der Würdigung der Aussage der Partei dürfe das Rechtsmittelgericht nicht abweichen, ohne die Partei erneut vernommen zu haben. Trage das Berufungsgericht dem nicht Rechnung, liege darin ein Verstoß gegen Art. 103 I GG. Diese Maßstäbe würden auch dann gelten, wenn das Erstgericht eine Partei nicht förmlich vernommen, sondern lediglich nach § 141 I 1 ZPO informatorisch angehört habe. Jedenfalls soweit die Angaben der Parteien in die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach § 286 I ZPO Eingang gefunden hätten und dort in ihrer Glaubhaftigkeit bewertet worden seien, dürfe das Berufungsgericht nicht ohne eigene Anhörung von dieser Würdigung abweichen (Hinweis auf BGH NJW 2018, 308 Rn. 10 = FD-ZVR 2017, 396038 mAnm Toussaint und BVerfG NJW 2017, 3218 Rn. 58 = FD-ZVR 2017, 394198 [Ls.]).

Praxishinweis

Bei Zweifeln an Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Beweisaufnahme geboten. Zweifel i.S.d. § 529 I Nr. 1 ZPO liegen vor, wenn aus Sicht des Berufungsgerichts eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der (erneuten) Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt. Wendet sich der Berufungsführer gegen eine ihm nachteilige Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Gerichts, genügt er den Anforderungen § 520 III 2 Nr. 3 ZPO, wenn er deutlich macht, dass und aus welchen Gründen er die Beweiswürdigung für unrichtig hält. Eine Auseinandersetzung mit der (Beweis-)Würdigung durch das Erstgericht ist dabei grds. nicht erforderlich (BGH NJW 2012, 3581 Rn. 11).

Das Berufungsgericht ist danach etwa verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will (BGH, BeckRS 2013, 03167 Rn. 13; BGH NJW-RR 2012, 704 Rn. 6 = FD-ZVR 2012, 330990 m. Anm. Toussaint). Unterlässt es dies, verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei. Diese Aussage gilt auch für die Vernehmung der beweisbelasteten Partei. Nichts anderes kann – wie der BGH jetzt nochmals herausgestellt hat (zuvor BGH NJW 2018, 308 Rn. 10 = FD-ZVR 2017, 396038 mAnm Toussaint) – für die Parteianhörung gelten.

BGH, Beschluss vom 28.07.2020 - II ZR 20/20, BeckRS 2020, 19014