Anmerkung von
RA Prof. Dr. Jobst-Hubertus Bauer, Stuttgart
Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 01/2022 vom 12.01.2023
Diese Urteilsbesprechung ist Teil des wöchentlich erscheinenden Fachdienstes Arbeitsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Arbeitsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Arbeitsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.
Sachverhalt
Frau CM war von Januar bis April 2017 bei der TimePartner Personalmanagement GmbH, einem Leiharbeitsunternehmen, auf Grundlage eines befristeten Vertrags als Leiharbeitnehmerin beschäftigt. Während ihrer Überlassung wurde sie bei einem ausleihenden Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin eingesetzt. CM erhielt gemäß dem Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer, den der Interessenverband, dem die TimePartner Personalmanagement GmbH angehörte, mit der Gewerkschaft, in der CM Mitglied war, geschlossen hatte, einen Bruttostundenlohn von 9,23 EUR. Dieser Tarifvertrag wich von dem im deutschen Recht anerkannten Grundsatz der Gleichstellung ab, indem er für Leiharbeitnehmer ein geringeres Arbeitsentgelt vorsah als es die Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern erhielten (Bruttostundenlohn von 13,64 EUR).
CM erhob beim ArbG Klage auf zusätzliches Arbeitsentgelt i.H.v. 1.296,72 EUR, d.h. der Differenz zwischen dem Arbeitsentgelt für Leiharbeitnehmer und dem für vergleichbare, unmittelbar vom entleihenden Unternehmen beschäftigte Arbeitnehmer. Sie machte geltend, dass ein Verstoß gegen den in Art. 5 RL 2008/104 verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung der Leiharbeitnehmer vorliege. Nachdem diese Klage ab- und die Berufung zurückgewiesen worden war, hat CM Revision beim BAG eingelegt, die den EuGH mit fünf Vorlagefragen zur Auslegung dieser Bestimmung befasst hat.
Entscheidung
Der EuGH klärt, welche Voraussetzungen ein von den Sozialpartnern geschlossener Tarifvertrag erfüllen muss, um gemäß Art. 5 III RL 2008/104 vom Grundsatz der Gleichbehandlung der Leiharbeitnehmer abweichen zu können. Er erläutert insbesondere die Tragweite des Begriffs „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“, den die Tarifverträge nach dieser Bestimmung achten müssen, und legt die Kriterien fest, anhand derer zu beurteilen ist, ob dieser Grundsatz tatsächlich geachtet wird. Der EuGH kommt außerdem zu dem Schluss, dass solche Tarifverträge einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen können müssen. Nach einem Hinweis auf das doppelte Ziel der RL 2008/104, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Vielfalt der Arbeitsmärkte zu achten, stellt der EuGH fest, dass Art. 5 III durch seine Bezugnahme auf den Begriff „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ nicht erfordert, ein den Leiharbeitnehmern eigenes Schutzniveau zu berücksichtigen, das über dasjenige hinausgeht, das durch nationales Recht und Unionsrecht betreffend die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die Arbeitnehmer im Allgemeinen festgelegt ist. Ließen die Sozialpartner jedoch durch einen Tarifvertrag Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zu, müsse dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmer zu achten, ihnen im Gegenzug Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die geeignet sind, die Ungleichbehandlung auszugleichen. Der Gesamtschutz wäre nämlich zwangsläufig geschwächt, wenn sich ein solcher Tarifvertrag darauf beschränkte, eine oder mehrere dieser wesentlichen Bedingungen zu verschlechtern. Die RL 2008/104 schrieb den Mitgliedsstaaten zwar nicht den Erlass einer bestimmten Regelung vor, mit der der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern im Sinne von Art. 5 III gewährleistet werden soll. Die Mitgliedsstaaten müssten jedoch dafür sorgen, dass Tarifverträge, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zulassen, insbesondere den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern achten. Diese Tarifverträge müssten einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen können, um zu überprüfen, ob die Sozialpartner ihrer Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern nachkommen.
Praxishinweis
Der Zeitarbeitsbranche wird nichts anderes übrigbleiben, als ihre Tarifverträge dahingehend zu überarbeiten, dass bei geringerer Vergütung tarifliche Ausgleichsvorteile vorgesehen werden. Aber was wird aus der Klage von Frau CM? Sie ist nicht mehr bei dem Leiharbeitgeber beschäftigt. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Differenzbetrag einzuklagen. Die Anspruchsgrundlage ist jetzt nicht unter dem Gesichtspunkt von „equal pay“ zu sehen, sondern ergibt sich aus Art. 5 III RL 2008/104/EG, weil das BAG gehalten ist, die Bestimmungen des AÜG europarechtskonform anzuwenden. „Jura novit curia“!
EuGH, Urteil vom 15.12.2022 - C-311/21 (BAG), BeckRS 2022, 35791