Urteilsanalyse
Empfangsbekenntnisse mit abweichenden Daten
Urteilsanalyse
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Wenn ein Prozessvertreter seinen Annahmewillen und eine wirksame Zustellung eines Urteils für ein bestimmtes Datum bestätigt, schließt dies nach Meinung des OLG Frankfurt a.M. nicht aus, dass er bereits vor diesem Zeitpunkt empfangsbereit war, das Urteil erhalten und das Urteil zu diesem früheren Zeitpunkt als zugestellt angesehen hat.

14. Sep 2022

Anmerkung von
Richter am Kammergericht Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 18/2022 vom 09.09.2022

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Sachverhalt

Ein LG-Urteil wird am 28.2 verkündet. Das Urteil, die Ausfertigung des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 28.2 sowie ein Streitwertbeschluss werden am 8.3 per EGVP beiden Prozessbevollmächtigten jeweils mit drei zu unterzeichnenden bzw. abzugebenden Empfangsbekenntnissen übersandt. Am 24.3. reicht der Klägervertreter T ein auf den 24.3 datiertes Empfangsbekenntnis hinsichtlich des Empfangs des Urteils zur Akte. Die Empfangsbekenntnisse hinsichtlich des Streitwertwertbeschlusses und der Protokollausfertigung gehen am 28.3 ein. Diese bestätigen den Erhalt des Protokolls und des Streitwertbeschlusses jeweils bereits für den 8.3. Mit Schriftsatz vom 25.4 (Montag), eingegangen am selben Tag, legt der Kläger, vertreten durch T, gegen das LG-Urteil Berufung ein. Dort heißt es, es werde „namens und in Vollmacht des Klägers und Berufungsklägers gegen das am 28.2. verkündete Urteil (…) zugestellt am 8.3 Berufung eingelegt (…)“. Auch in der Berufungsbegründung wird für die Urteilzustellung der 8.3 angegeben.

Das OLG teilt dem Kläger mit, die Berufung könnte verfristet sein. Hierauf teilt K mit, das LG-Urteil sei dem zuständigen Rechtsanwalt am 24.3 vorgelegt und von diesem in Empfang genommen worden, was sodann im Empfangsbekenntnis festgehalten worden sei. Die Angabe 8.3. beruhe „auf einem Büroversehen“. Das fälschlicherweise im System eingetragene Datum sei in der Folge sowohl automatisch in die Berufungsschrift als auch in die Berufungsbegründung übernommen worden.

Entscheidung: Die Berufung ist unzulässig, weil es zu spät eingelegt wurde!

Zwar habe T seinen Annahmewillen erst für den 24.3. bestätigt. Diese Erklärung schließe es aber nicht aus, dass er bereits vor diesem Zeitpunkt empfangsbereit gewesen sei, das Urteil zu erhalten und es zu diesem früheren Zeitpunkt als zugestellt angesehen habe. T habe in der Berufung und in der Berufungsbegründung den 8.3. angegeben. Diese Erklärungen seien ebenfalls Empfangsbekenntnisse iSv § 175 ZPO (Hinweis ua auf BVerfG NJW 2001, 1563 (1564) – juris Rn. 19; BGH NJW-RR 2018, 60 Rn. 12). An ihnen müsse T sich festhalten lassen.

T habe den Beweis einer Zustellung am 8.3. auch nicht „hinreichend erschüttert“. Der „Gegenbeweis“ sei erst dann vollständig erbracht, wenn die „Beweiswirkungen des § 175 ZPO“ entkräftet seien und jede Möglichkeit ausgeschlossen sei, dass die Angabe auf dem Empfangsbekenntnis richtig sein könnte. Dafür reiche das Empfangsbekenntnis vom 24.3. nicht aus. Auch der Vortrag des T, die Angabe 8.3. sei „ein Büroversehen“, sei unbehelflich.

Praxishinweis

Im Fall geht es nicht um die Antwort auf die Frage, wann das LG-Urteil die Kanzlei des T erreicht hat, sondern um die Frage, wann T empfangsbereit war, dh den Willen hatte, das LG-Urteil als zugestellt entgegenzunehmen (stRspr, zB BGH BeckRS 2021, 10258 Rn. 9; BGH NJW-RR 2015, 953 Rn. 7; BGH NJW 2011, 3581 Rn. 16). Der Tag der Zustellung und der Tag der Empfangsbereitschaft können zusammenfallen, müssen es aber nicht.

Im Fall meint das OLG, T habe durch die Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift seine Empfangsbereitschaft für den 8.3. erklärt. Dieser Ansicht steht aber entgegen, dass die einzige Urkunde, in der T seine Empfangsbereitschaft ausdrücklich erklärt hat, das ihm übersandte Empfangsbekenntnis ist und er dort für den 24.3. seine Empfangsbereitschaft erklärt hatte. Selbst dann, wenn man in der Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift auch Empfangsbekenntnisse sehen will, hätte das OLG also erst einmal das richtige Datum der Empfangsbereitschaft ermitteln müssen. Es musste dazu drei Empfangsbekenntnisse auswerten und einen sicheren Schluss ziehen, welches Datum richtig ist. Stattdessen meint der Senat begründungslos, die Empfangsbereitschaft habe mit Blick auf Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift und die dortigen allenfalls konkludenten Angaben für eine Empfangsbereitschaft – in Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift wird nur die Zustellung bestätigt! – bereits am 8.3 bestanden (apodiktisch: „der Kläger muss sich an den beiden schriftsätzlich erklärten Empfangsbekenntnissen festhalten lassen“). T müsse daher im Folgenden beweisen, erst am 24.3 empfangsbereit gewesen zu sein. Es wäre demgegenüber wohl besser gewesen, im Freibeweisverfahren die Empfangsbereitschaft zu klären.


OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 29.06.2022 - 3 U 102/22 (LG Gießen), BeckRS 2022, 19106