Urteilsanalyse
Elektronischer Rechtsverkehr mit Behörden
Urteilsanalyse
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Auch nach dem 01.01.2018 führt der fehlende Hinweis in einer Rechtsbehelfsbelehrung auf die Möglichkeit, auf elektronischem Wege Widerspruch einzulegen, nach einem Urteil des LSG Schleswig-Holstein nicht zur Fehlerhaftigkeit der Belehrung. Durch die Angabe einer Mail-Adresse im Briefkopf eines behördlichen Schreibens wird danach der Zugang für die Übermittlung elektronischer Dokumente nicht, auch nicht konkludent, eröffnet.

5. Mai 2022

Anmerkung von

Rechtsanwalt Martin Schafhausen, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 09/2022 vom 29.04.2022

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Sachverhalt

In einer grundsicherungsrechtlichen Angelegenheit hatte das beklagte Jobcenter mit Bescheiden vom 08.02.2018 wegen bislang nicht berücksichtigten Einkommens, Bewilligungsbescheide teilweise aufgehoben und Leistungen zurückgefordert. Den Bescheiden war eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt, die nicht die Möglichkeit bezeichnete, auf elektronischem Wege Widerspruch einzulegen.

Der Briefkopf der Bescheide nannte aber auch eine Mail-Adresse, unter der das Jobcenter zu erreichen war.

Mitte Mai wandte sich der bevollmächtigte Familienhelfer an die Beklagte und bat (mehrfach) um ein klärendes Gespräch. Mit (Telefax-) Schreiben vom 26.12.2018 legte die Prozessbevollmächtigte der Kläger Widerspruch ein, die das beklagte Jobcenter mit Widerspruchsbescheid vom 08.01.2019 als unzulässig zurückwies. Der Widerspruch sei verfristet.

Das SG wies die Klage zurück. Die Beklagte habe die Widersprüche zu Recht als unzulässig zurückgewiesen. Sie habe nicht über die Möglichkeit, Widerspruch auch elektronisch einlegen zu können, belehren müssen, da die Beklagte den elektronischen Rechtsverkehr zur damaligen Zeit nicht eröffnet habe. Erst seit August 2020 bestehe bei der Beklagten ein elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach. Durch die Nennung der Mail-Adresse im Briefkopf habe die Beklagte auch nicht konkludent den Zugang für die Übermittlung elektronischer Dokumente eröffnet. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerseite.

Entscheidung

Das LSG wies die Berufung als statthaft, zulässig, aber unbegründet zurück. Das SG habe zu Recht angenommen, der Widerspruch sei verfristet gewesen.

Die Rechtsbehelfsbelehrung, die den Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden angefügt gewesen war, sei nicht zu beanstanden gewesen. Höchstrichterlich sei nicht abschließend geklärt, welche Auswirkungen die Möglichkeit, Widerspruch durch elektronische Dokumente zu erheben, auf die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid seit dem 01.012018 habe. Das BSG habe im Urteil vom 14.03.2013 (BeckRS 2013, 68951) ausgeführt, dass zur ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung auch die ordnungsgemäße Belehrung über die richtige Form gehöre. Bei der elektronischen Form i.S.v. § 65a SGG handele es sich dabei nicht um eine Sonderform der Schriftform, sondern nach dem Willen des Gesetzgebers, um eine zusätzliche Möglichkeit, neben der Schriftform, mit den Gerichten zu kommunizieren. Daraus folge aber nicht, dass diese Möglichkeit schon damals als Regelweg, auf den in der Rechtsmittelbelehrung hinzuweisen sei, anzusehen sei.

Seit Januar 2018 sei in § 84 Abs. 1 SGG ausdrücklich vorgesehen, dass der Widerspruch in elektronischer Form nach § 36a Abs. 2 SGB I, also mit qualifizierter elektronischer Signatur, eingereicht werden könne. Damit werde deutlich, dass die elektronische Form zumindest seit diesem Zeitpunkt neben der Schriftform als gleichrangige prozessuale Form anzusehen sei.

Zur Überzeugung des Senates führe dennoch der fehlende Hinweis auf die Möglichkeit der Einreichung eines Widerspruchs in elektronischer Form nach § 36a Abs. 2 SGB I nicht zur Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung und damit zur Verlängerung der Widerspruchsfrist, da der Beklagte erst zum 17.08.2020 den Zugang zu elektronischem Rechtsverkehr eröffnet habe und auch vorher nicht im Adressverzeichnis des EGVP gelistet war. In der Veröffentlichung der Mail-Adresse im Adressblock des Bescheides könne der Senat keine konkludente Eröffnung eines Zugangs nach § 36a Abs. 1 SGB I erkennen. Die Mitteilung einer einfachen E-Mail-Adresse könne das Schriftformerfordernis des § 36a Abs. 2 SGB I nicht erfüllen, sodass durch die Bekanntgabe einer solchen Adresse kein Rechtsschein für die Eröffnung einer solchen Zugangsmöglichkeit zu erkennen sei.

Praxishinweis

Das Urteil des LSG überzeugt weder im Hinblick auf die Rechtslage ab Januar 2018 noch für die neue Rechtslage ab Januar 2022. Die Begründung lässt wesentliche Aspekte außer Betracht.

1. Nach § 65d Satz 1 SGG (in der Fassung des ERV-AusbauG vom 05.10.2021) sind neben Rechtsanwälten auch Behörden, juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse verpflichtet, nur noch elektronisch mit den Gerichten zu korrespondieren. Mit dieser Verpflichtung einher geht die Eröffnung eines Zugangs für die Übermittlung elektronischer Dokumente i.S.v. § 36a Abs.1 SGB I.

Die elektronische Kommunikation ist damit ohne Zweifel Regelweg für Rechtsanwälte (und die übrigen in § 65d Satz 1 SGG genannten Institutionen) und die einzig zulässige Möglichkeit, mit Gerichten zu korrespondieren, sodass in Rechtsbehelfs-, aber auch Rechtsmittelbelehrungen auf diese Kommunikationsmöglichkeit hingewiesen werden muss.

Fehlt aber der Hinweis auf diesen Regelweg in der Rechtsbehelfsbelehrung eines Bescheides, ist die Belehrung fehlerhaft. Es gilt dann die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG.

2. Die Behörden (usw.) sind nicht berechtigt, solche Kommunikationswege auf die Kommunikation mit Gerichten zu beschränken. Sind die Behörden in den SAFE-Verzeichnissen, etwa über das beA aufzufinden, können elektronische Dokumente auch außergerichtlich an solche Postfächer verschickt werden. Ist (wie im Falle des Widerspruchs) durch Rechtsvorschrift die Schriftform angeordnet, ist § 36a Abs. 2 SGB I zu beachten. Es ist also eine qualifizierte elektronische Signatur anzubringen.

Dies gilt m.E. auch, wenn Behörden entgegen ihrer Verpflichtung aus § 65d Satz 1 SGG einen solchen Kommunikationsweg nicht eröffnet haben. Es ist nicht zu erkennen, dass Behörden, die sich gesetzeswidrig verhalten, fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrungen verwenden dürften.

3. Die Begründung des Gerichts überzeigt aber auch für den vorangegangenen Zeitraum ab Januar 2018 nicht. Das Gericht nimmt an, dass das Jobcenter weder einen Zugang für die Übermittlung elektronischer Dokumente eröffnet, noch hierfür einen Rechtsschein gesetzt habe. Diese Einschätzung ist unrichtig.

Anders als § 65a Abs. 3 Satz 1, 2. Alt. SGG i.V.m. § 65a Abs. 4 Satz 1 SGG, wonach elektronische Dokumente an die Gerichte über einen „sicheren Übermittlungsweg“ übermittelt werden können, ohne dass sie mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen werden müssten, wenn sie von der verantwortenden Person einfach signiert (zur einfachen Signatur vgl. BSG, BeckRS 2022, 4343 mit Anm. Schafhausen, FD-SozVR 2022, 447952) und über einen in § 65a Abs. 4 Satz 1 SGG genannten Übermittlungsweg an die Gerichte verschickt werden, verpflichtet § 36a Abs. 1 SGB I die Behörden nicht auf einen bestimmten Übermittlungsweg. Maßgeblich ist allein, dass ein Zugangsweg eröffnet wird. Der Hinweis des Gerichts, dass gerichtsbekannt sei, dass der Beklagte erst ab dem 17.08.2020 den E-Justiz-BA eröffnet habe, mag richtig sein, ist aber für die Frage der elektronischen Kommunikation über eine im Briefkopf des Bescheides genannte Mail-Adresse ohne Belang. Die Möglichkeit, über das EGVP-Postfach mit der Behörde zu kommunizieren mag ab diesem Zeitpunkt bestanden haben. Dass nicht per Mail mit dem Beklagten kommuniziert werden konnte, ist nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Die Nennung einer Mail-Adresse hat allein den Zweck, den Adressaten des Bescheides die Möglichkeit zu eröffnen, diesen Kommunikationsweg zu nutzen.

Das LSG unterliegt einem Zirkelschluss, wenn es annimmt, der fehlende Hinweis auf die Formvorgaben des § 36a Abs. 2 Satz 1 SGB I in der Rechtsbehelfsbelehrung stehe der Annahme entgegen, der Beklagte habe den Eindruck erwecken können, durch die Nennung der Mail-Adresse einen Zugang für elektronische Dokumente eröffnet zu haben. Das tatsächliche Zurverfügungstellen eines Zugangs für elektronische Dokumente eröffnet den elektronischen Rechtsverkehr mit Behörden. Nur für Erklärungen, bei denen die Schriftform angeordnet wurde, sind bestimmte Formvorschriften i.S.v. § 36a Abs. 2 SGB I zu beachten.

4. Auf Fragen zur aktiven Nutzungspflicht des besonderen Anwaltspostfaches ab 11.2.2022 antwortet der „beA-Report“ von Cosack, ZAP 2022, 355.


LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 29.10.2021 - L 3 AS 108/20, BeckRS 2021, 49467