NJW-Editorial
eJustice mit Corona-Doping
NJW-Editorial
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Die Digitalisierung der Justiz ist trotz der sportlichen Fristen des eJustice-Gesetzes kein Sprint, sondern ein Marathon. Das ansonsten in jeder Hinsicht außerordentlich unerfreuliche Coronavirus wirkt in diesem Lauf als Dopingmittel. Gerade die durch Sachzwänge und manchmal mangelnden Willen lahmende Modernisierung der Sitzungssäle vollzieht sich nun mancherorts mit bisher ungekannter Geschwindigkeit.

7. Mai 2020

Geradezu exemplarisch ist, dass der Druck hierzu von allen Seiten kommt: Richterinnen und Richter sind bestrebt, Verfahren zu fördern, ohne den virusbedingt unerwünschten Publikumsverkehr in den Gerichten zu erhöhen. Verfahrensbeteiligte haben das Interesse, ansteckungsgefährdende Reisen zu meiden. Und der Gesetzgeber winkt mit dem Entwurf für ein Covid-19-ArbGG/SGG-Anpassungsgesetz, das Gerichtsverfahren teilweise virtualisieren könnte.

Kernpunkt darin: Videokonferenz-Verhandlungen krankten bisher nicht nur an der fehlenden Verfügbarkeit der Technik, sondern auch daran, dass die „Virtualisierung“ für die Beteiligten nur freiwillig war, dass sämtliche Richter im Gerichtssaal anwesend sein mussten und die Öffentlichkeit gewahrt sein musste – freilich weder als Public Viewing, noch ohne Sicht auf das Video, sondern wie stets als Saalöffentlichkeit. Da preschen nun das Bundesarbeitsministerium und die Regierung mit einem Vorhaben voran (bzw. im Windschatten einer entsprechenden Initiative aus der Arbeitsgerichtsbarkeit hinterher), diese normativen Hemmnisse zu beseitigen.

Befremdlich ist der Entwurf trotz des ehrenwerten Ziels: Eine beschränkte Rechtsänderung nur für die Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit ist nicht sachgerecht; sie ist nur den Ressortzuständigkeiten geschuldet, nicht den tatsächlichen Bedürfnissen (auch) der übrigen Gerichte. Gleiches gilt für eine teilweise nur online besetzte Richterbank: Zwar ist richtig, dass viele ehrenamtliche Richterinnen und Richter bereits aus Altersgründen zur Risikogruppe zählen. Ob sie aber wirklich nicht persönlich an der Sitzung teilnehmen wollen, erscheint fraglich. Zumal sie dann ja auch rein faktisch ertüchtigt werden müssen, an der virtuellen Verhandlung datenschutzkonform teilzunehmen. Weitere Ideen – namentlich die (bedenkliche) Beschränkung der Öffentlichkeit und die Möglichkeit für das Gericht, Videokonferenzen nicht nur zu gestatten, sondern anzuordnen – sind in der zwischenzeitlich auf den Weg gebrachten Fassung des Entwurfs nach fast einhelliger Kritik wieder gestrichen. Entscheidend auf der Haben-Seite bleibt nur, dass plötzlich Bewegung in die Beschaffung und Bereitstellung der Technik kommt. Hier wirkt auch und gerade der gesetzgeberische Druck. Zudem profitieren die den eJustice-Marathon laufenden Richterinnen und Richter vom Motivations- und Trainingseffekt, die Technik zu nutzen – auch für die Zeit nach Corona.

Das Fazit ist also: Der Entwurf kann weitgehend weg. Die Technik behalten wir aber gerne – und bleiben nicht nur gesund, sondern werden auch moderner. •

Dr. Henning Müller ist Richter am Hessischen Landessozialgericht und als Präsidialrichter für IT und Organisation zuständig.