Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 03/2021 vom 12.02.2021
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Sachverhalt
Ende 2020 beantragt der Antragsteller, die für den Betrieb des Impfzentrums zuständige kreisfreie Stadt im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm unverzüglich eine Möglichkeit zur Schutzimpfung zu verschaffen, hilfsweise unverzüglich einen Termin zu vergeben für die Erst- und Auffrischimpfung.
Der Antragsteller hat das 84. Lebensjahr vollendet und gehört damit der Gruppe der Personen mit höchster Priorität i.S.d. § 2 Corona-ImpfVO an. Er rügt, bislang noch keinen Zugang zur Impfung erhalten zu haben, obwohl – gemäß Pressemittlungen – Impfstoff bereits am 27.12.2020 in der Stadt angeliefert wurde.
Die Antragsgegnerin – zunächst das Land Nordrhein-Westfalen –, nun die für den Antragsteller zuständige kreisfreie Stadt, die nach der Corona-Impfverordnung und einem Erlass des Landes Nordrhein-Westfalen für die Errichtung des Impfzentrums zuständig ist, wendet u.a. ein, zunächst seien in Alten- und Pflegeheimen durch mobile Impfteams die Impfungen vorzunehmen, sodann erfolge die Terminvergabe. Impfberechtigt sind nur solche Personen, denen bereits ein Termin zugeteilt wurde.
Entscheidung
Das VG lehnt den Antrag ab und setzt den Streitwert auf 5.000 EUR fest. Der Verwaltungsrechtsweg ist gegeben, da es hier nicht um einen Anspruch gegen die jeweilige Krankenkasse, etwa hergleitet aus § 20i SGB V geht, sondern um die Verschaffung einer Möglichkeit zur Schutzimpfung. In der ersten Phase erfolgt dies ausschließlich in zentralen Impfzentren, die nicht von Krankenkassen, sondern vom Land organisiert werden. Das VG bestätigt, dass der Antrag zulässig ist.
Gerügt wird eine mögliche Rechtsverletzung. Dem Antragsteller könnte ein Anspruch aus § 20 Abs. 5 Satz 1 IfSG, aber auch aus § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4f IfSG zustehen, jedenfalls aber ein entsprechender Teilhabeanspruch aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 1 GG. Da der Antragsteller bisher noch keinen Zugang zum Impfstoff hat, ist insoweit „eine Verletzung in eigenen Rechten“ zumindest möglich. Der Antrag ist auch gegen den richtigen Antragsgegner – die kreisfreie Stadt – gerichtet, die nach dem Erlass der Landesregierung für die Errichtung und den Betrieb des Impfzentrums zuständig ist.
„Derzeit“ könne jedoch die von dem Antragsteller begehrte einstweilige Anordnung nicht ergehen. Sowohl ein etwaiger einfach-gesetzlicher Anspruch aus § 20 IfSG als auch der verfassungsrechtliche Teilhabeanspruch aus Art. 2 und Art. 3 GG bestehen nur im Rahmen der aktuell tatsächlich zur Verfügung stehenden Kapazitäten. Dies folge mit Blick auf § 1 Abs. 1 Satz 1 Corona-ImpfVO bereits aus dem Wortlaut der Norm, wonach nur „im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe“ ein Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Corona-Virus besteht.
Im Übrigen ist die Begrenzung des Anspruchs auf Teilhabe an staatlichen Leistungen auf die jeweils aktuell vorhandenen Kapazitäten allgemein anerkannt. Gewährt der Staat eine staatliche Leistung, folgt aus Art. 3 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Teilhabe, wenn die Nichtleistung dem Anspruchsteller gegenüber eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung darstellt. Der Anspruch steht allerdings unter dem Vorbehalt des Möglichen im dem Sinne, dass die Verwaltung nicht mehr als die ihr für eine bestimmte Subvention zur Verfügung gestellten Mittel ausgeben oder nur bis zur Kapazitätsgrenze Personen zur Nutzung einer Einrichtung zulassen kann. Diese Grenzen des Möglichen sind auch unter Gleichheitsgesichtspunkten sachgerechte Gründe für eine Beschränkung des Anspruchs.
Praxishinweis
1. Eine sehr lesenswerte Entscheidung zur Impfpriorisierung. Schon wegen des Bezugs zum Grundrecht ist das Begehr des Antragstellers, möglichst umgehend geimpft zu werden, von der Justiz ernst zu nehmen und daraufhin zu überprüfen, ob seitens der staatlichen Stellen das Mögliche auch zum Schutze dieses Antragstellers veranlasst wurde. Dem Beschluss ist zuzustimmen (ebenso auch LS Niedersachsen-Bremen, BeckRS 2021, 888).
2. Berichtet wird über weitere Anträge vergleichbarer Art, die im Einzelfall einen Anspruch auf vorzugsweise Behandlung begründen können: In Hamburg hatte eine krebskranke Patientin, die nach den Vorgaben der Impfverordnung nicht zur Gruppe der zuerst priorisierten Anspruchsberechtigten auf eine Impfung zählte, vor Gericht geltend gemacht, bei ihr sei ein Tumor diagnostiziert worden, der eine zeitnahe Operation und anschließende Chemotherapie erfordere. Mit dieser Erkrankung und aufgrund ihres Alters fällt sie nach den Vorgaben der Corona-ImpfVO erst in die dritte Personen-gruppe mit erhöhter Priorität beim Anspruch auf Schutzimpfung. Sie hätte wohl noch Monate auf die Impfung warten müssen. Die Ärzte haben jedoch empfohlen, die Impfung vor der Operation durchzuführen, wenn das Immunsystem noch nicht durch die Therapie geschwächt ist. Daraufhin wurde sie vorgezogen, so dass das Verwaltungsgericht in diesem speziellen Fall nicht darüber zu befinden hatte, ob die in der Corona-ImpfVO geregelte Priorisierung um eine Härtefallregelung zu ergänzen ist, welche die Berücksichtigung exponierter Vulnerabilität ermöglicht (vgl. dazu Sucker-Sket, Corona-ImpfVO, Deutsche Apotheker-Zeitung (DAZ) Aktuell, Nr. 3, S. 12). Das VG Frankfurt/Main hat Medien-Berichten zufolge ebenfalls einen Härtefall bejaht. Das Alter allein rechtfertigt aber nicht eine Vorzugsbehandlung (OVG Münster, BeckRS 2021, 468).
3. Verfassungsjuristen beanstanden, die Impfpriorisierung müsse durch den Gesetzgeber geregelt werden. Die Ermächtigung in § 20i Abs. 3 Satz 2 SGB V entspreche nicht den Vorgaben des Art. 80 GG (so etwa Leisner-Egensperger, NJW 2021, 202. Eneso Diskussion im Gesundheitsausschuss am 13.01.2021, dazu Richter-Kuhlmann, Deutsches Ärzteblatt 2021, A 78). Ob dieser Einwand wirklich zutrifft, erscheint zweifelhaft. Sollte er zutreffen, erweitert dies den aus den Grundrechten hergeleiteten Teilhabeanspruch der Impfwilligen m.E. nicht.
4. Wenn im Praxisalltag ausreichende Mengen an Impfstoffen vorhanden sind, soll die Impfung in naher Zukunft in den Arztpraxen stattfinden. Auch dann könnte es unter den Versicherten eine Art „Wettlauf“ um einen schnellen Impftermin geben. Wer von „seiner Arztpraxis“ einen Termin zur Impfung erst in acht Wochen erhält, könnte das SG um eine einstweilige Anordnung bitten, welches „seine Krankenkasse“ verpflichtet, ihm die Impfung schneller zu verschaffen. Dieser Weg, mit dem die Funktion der Terminservicestellen gem. § 75 Abs. 1a SGB V umgangen werden soll, macht wenig Sinn, da die dem Antrag stattgebende Entscheidung des Sozialgerichts dem einzelnen Leistungserbringer (Ärztin/Arzt) gegenüber nicht durch Androhung eines Zwangsgeldes etc. vollstreckt werden kann. Ausführlich zum Thema „Zuteilung von Lebenschancen in der Pandemie“ Tolmein, NJW 2021, 270.
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11.01.2021 - 20 L 1812/20, BeckRS 2021, 58