Am 23.5.2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Hohe Repräsentanten wichtiger Institutionen werden es würdigen. Die Rechtswissenschaft wird aus diesem Anlass dogmatische Höhen erklimmen. Darüber sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, dass unsere Verfassung ganz wesentliche Bedeutung für das alltägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger hat.
Das lässt sich an zahlreichen Entscheidungen des BVerfG nachvollziehen. So wurde 1958 im Lüth-Urteil die Meinungsfreiheit als „in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit“ (BVerfGE 7, 198 [208] = NJW 1958, 257) identifiziert. Kaum ein verfassungsrechtliches Judikat hat eine solche Breitenwirkung entfaltet wie das Volkszählungsurteil von 1983 (BVerfGE 65, 1 = NJW 1984, 419). In ihm hat das BVerfG aus Art. 2 I iVm Art. 1 I GG das Recht auf informationelle Selbstbestimmung abgeleitet und als eigenständiges Grundrecht definiert, das sich in den heutigen Gewährleistungen des Datenschutzes mit erheblicher praktischer Bedeutung fortsetzt.
Das durch Art. 1 I GG gewährleistete, nicht ab- und wegwägbare Menschenwürdegebot hat auch zahlreiche andere Entscheidungen des BVerfG determiniert, wie etwa das aufsehenerregende Urteil über das Luftsicherheitsgesetz von 2006 (BVerfGE 115, 118 = NJW 2006, 751). Die Verpflichtung zu Achtung und Schutz der Menschenwürde schließen es generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen und seine Subjektqualität infrage zu stellen. Diese aufgrund der grauenvollen Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft – und übrigens im Einklang mit der deutschen Geistesgeschichte seit Kant – entstandene Bestimmung steht zu Recht an erster Stelle unserer Verfassung. Sie ist die Leitplanke, die das Grundgesetz von den Verfassungen zahlreicher anderer Rechtsstaaten unterscheidet und hierdurch Fragen des grundlegenden Staatsverständnisses berührt. Die Urteile des BVerfG zu Hartz IV zeigen, welche hohe Bedeutung das Menschenwürdegebot für das Leben einer Vielzahl von Menschen hat. Denn aus Art. 1 I GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG folgt die Pflicht des Gesetzgebers, Betroffenen durch ausreichende Grundsicherung ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten.
Das Grundgesetz ist keine Verfassung für Festakte, sondern die solide Basis für den Alltag unseres Lebens. Ein Fundament, auf dem die Freiheiten, die soziale Sicherheit und der innere Frieden unserer Gesellschaft ruhen. Einer Gesellschaft, die trotz aller berechtigten Kritik an einzelnen Defiziten und der zweifellos bestehenden Notwendigkeit von Reformen im Großen und Ganzen gut und stabil funktioniert. Deshalb müssen wir Demokraten über alle Differenzen hinweg unsere Verfassung kraftvoll gemeinsam verteidigen und das BVerfG stärken als dasjenige Verfassungsorgan, dem gerade in krisenreichen Zeiten eine zentrale Rolle zum Schutze unseres Rechtsstaats zukommt.
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