NJW-Editorial
Eine Sandkiste für den Zivilprozess

Mit dem "Justizstandortstärkungsgesetz" will die Ampel-Koalition Commercial Courts und Commercial Chambers einführen. Die Kritiker übersehen, dass die deutsche Justiz nicht nur in internationalen Fällen Probleme mit komplexen Streitigkeiten hat. Da ist dies ein Leuchtturmprojekt und zugleich ein Experimentierfeld.

2. Nov 2023

Vor wenigen Tagen ist der Entwurf des Justizstandortstärkungsgesetzes in den Bundestag eingebracht worden. Die Länder sollen ermächtigt werden, bei einzelnen Oberlandesgerichten Commercial Courts zu errichten, bei denen Streitigkeiten mit einem Wert von mehr als einer Million Euro vor einem voll besetzten OLG-Senat in erster Instanz verhandelt und entschieden würden, gegebenenfalls auch in englischer Sprache. Für geringere Streitwerte sollen auf der Ebene der Landgerichte sogenannte Commercial Chambers eingerichtet werden, die nach ähnlichen Grundsätzen verfahren würden.

Wie der Titel schon anzeigt, zielt das Justizstandortstärkungsgesetz darauf, die Position der deutschen Justiz im internationalen Wettbewerb um großvolumige Streitigkeiten aus grenzüberschreitenden Transaktionen zu verbessern. In welchem Umfang solche Streitigkeiten existieren und für die deutschen Gerichte zu gewinnen sein werden, darüber lässt sich streiten. Es steht zudem der Vorwurf im Raum, mit Commercial Courts werde einer Zweiklassenjustiz Vorschub geleistet.

Die Kritiker des Vorhabens übersehen dabei, dass die deutsche Justiz nicht nur in internationalen Fällen Probleme mit komplexen Streitigkeiten hat. Zentrale Schwachpunkte sind die unzureichende IT-Ausstattung, in die Jahre gekommene und räumlich defizitäre Justizgebäude, für die Bewältigung komplexer Streitigkeiten völlig unrealistische Pensen­schlüssel nach dem System PEBB§Y und die De-facto-Abschaffung des Kammerprinzips mit der ZPO-Reform 2002. Die dem Einzelrichter am Landgericht zugebilligten zehn Stunden für die Erledigung einer Zivilsache reichen bei komplexen Wirtschaftsstreitigkeiten nicht einmal dafür aus, die Schriftsätze durchzulesen.

Was folgt daraus? Die deutschen Gerichte sind derzeit nicht annähernd so gut, wie sie sein könnten. Eine durchgreifende und flächendeckende Hebung ihrer Leistungen durch bessere Ausstattung und die Rückkehr zur Kollegialentscheidung wäre möglich und auch geboten. Aus vielerlei Gründen, zu denen auch die föderale Struktur der Justiz zählt, ist eine umfassende Reform derzeit nicht realistisch. In dieser Lage sind die Commercial Courts ein Leuchtturmprojekt, das Parteien, Anwälten, Justizadministratoren und Rechtspolitikern zeigen kann, was die Gerichte könnten, wenn man ihnen das gibt, was sie brauchen. Sollten die Commercial Courts von den Parteien angenommen werden und vielleicht sogar ihr „Geld wieder hereinspielen“, könnten sie zum Vorbild für eine umfassende Reform der Ziviljustiz werden, die den Standort insgesamt voranbringt. Commercial Courts sind deshalb auch eine Art „regulatory sandbox“, ein Experimentierfeld des Zivilprozessrechts, in der mit beschränktem Ressourceneinsatz gezeigt werden kann, was möglich wäre. Aufs Ganze gesehen liegt darin vielleicht ihre größte Bedeutung.

Prof. Dr. Gerhard Wagner, LL.M. (University of Chicago), ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Ökonomik an der Humboldt-Universität zu Berlin.