Interview
„Eine Impfpflicht kann zulässig sein“
Interview
Foto_Stephan_Rixen_WEB
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Kaum haben die ersten Menschen einen Impfstoff gegen das Coronavirus erhalten, werden schon juristische Diskussionen darüber entfacht. Denn manchen kann es nicht schnell genug gehen, selbst an die Reihe zu kommen – andere fürchten eine Impfpflicht oder die Bevorzugung von bereits Geimpften etwa beim Fliegen oder in Restaurants. Über all dies haben wir mit Prof. Dr. Stephan Rixen von der Universität Bayreuth gesprochen.

21. Jan 2021

NJW: Wäre eine Impfpflicht zulässig, etwa wenn nur auf diese Weise eine „Herdenimmunität“ erreicht werden kann?

Rixen: Wenn sich eine hinreichend hohe Durchimpfungsrate nur durch eine Impfpflicht erreichen ließe, also nur durch ein staatlich angeordnetes, sanktionsbewehrtes Gebot, sich impfen zu lassen – so wie seinerzeit bei der Pockenschutzimpfung –, dann wäre diese Pflicht dem Grunde nach verhältnismäßig. Sie wäre es aber nur, wenn zuvor wirklich alles unternommen wurde, um die Menschen zu einer freiwilligen ­Covid-19-Impfung zu bewegen. Und genügend Impfstoff müsste es auch geben.

NJW: Darf man Geimpfte bevorzugen, oder wäre das ein indirekter Impfzwang?

Rixen: Das Ganze ist, da stimme ich Armin Laschet zu, eine „Drohdebatte“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3.1.2021, S. 2). Wir brauchen dringend eine Ermutigungsdebatte, die Vertrauen und Akzeptanz stärkt. Horst Seehofer sagt völlig zu Recht: „Eine Unterscheidung zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften kommt einer Impfpflicht gleich“ (Bild am Sonntag vom 27.12.2020, S. 8).

NJW: Unter welchen Voraussetzungen kann eine solche Quasi-Impfpflicht, die auf den Zwang der Verhältnisse setzt, verfassungsgemäß sein?

Rixen: Es kommt unter anderem darauf an, wer – Staat oder Private – an den fehlenden Impfnachweis welche zumutbaren Nachteile knüpft.

NJW: Darf man denn Menschen, die sich freiwillig haben impfen lassen, noch Einschränkungen wie beispielsweise eine Ausgangssperre auferlegen?

Rixen: Das hängt zunächst davon ab, was die Impfung leistet: Schützt sie nur vor der Erkrankung (wie lange?) oder verhindert sie auch (wie lange?), dass die geimpfte Person andere ansteckt? Dass die Ansteckung anderer verhindert wird, dürfte wahrscheinlich sein, aber sicher wissen wir es noch nicht. Bis das geklärt ist, können verpflichtende Schutzmaßnahmen, auch Ausgangssperren, verhältnismäßig sein – auch für Geimpfte. Die Impfung ist kein Grundrechtsjoker, der alle Freiheitsbeschränkungen verfassungswidrig macht.

NJW: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Umstand, dass es bislang viel zu wenig Impfstoff gibt, um ihn jedem zu verabreichen, der das möchte?

Rixen: Es geht um zwei Gleichheitsprobleme: den ungleichen Zugang zum (gegebenenfalls auch Ansteckungen verhindernden) Impfstoff und die ungleich verteilte Chance, mittels eines Impfnachweises Freiheit zurückzugewinnen. Die Gründe, die die Impfpriorisierung rechtfertigen – sie werden in § 20i III 2 Nr. 1 Buchst. a SGB V genannt und in der Coronavirus-Impfverordnung konkretisiert – , rechtfertigen auch den verzögerten Freiheitsrückgewinn, sofern der Staat für die möglichst schnelle Verfügbarkeit des Impfstoffs sorgt. Da trifft ihn eine Gewährleistungspflicht (vgl. Art. 2 II 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip und Art. 3 I GG).

NJW: Gibt es dabei Unterschiede zwischen dem Staat und Privaten, etwa in der Gastronomie und Hotellerie?

Rixen: Eine Gastronomin oder ein Hotelier, die nur Personen mit Impfnachweis als Gäste zulassen, dürfen das tun. So etwas nennt man Vertragsfreiheit. Insbesondere das AGG verbietet das nicht, weil es Benachteiligungen allein wegen des Gesundheitszustands nicht erfasst. Die Lage ist aber anders zu bewerten, wenn es um lebensnotwendige Güter und Dienstleistungen, um den Zugang zu „essential facilities“ geht und es keine zumutbaren Ausweichmöglichkeiten gibt. Insoweit wäre es gut, wenn der Gesetzgeber seiner grundrechtlichen Schutzpflicht zugunsten (noch) nicht geimpfter Personen durch klarstellende Regelungen, zum Beispiel im AGG, genügen würde.

NJW: Kann eine Impfpflicht mit anderen Pflichten kollidieren, etwa der Beförderungspflicht der Bahn oder von Fluggesellschaften?

Rixen: Jedenfalls solange noch offen ist, ob die Impfung die Infektion anderer verhindert, bezweifle ich, dass die Pflicht zum Impfnachweis eine Beförderungsbedingung sein kann, die die Beförderungspflicht von Eisenbahnen (§ 10 Nr. 1 AEG) und Fluglinien (§ 21 II 3 und 4 LuftVG) zulässig einschränkt.

NJW: Darf man Impfverweigerern bei knappen Kapazitäten eine Intensivbehandlung verweigern, etwa als ein Aspekt im Zuge einer Triage?

Rixen: Das ist rechtlich und ethisch völlig inakzeptabel. Vertrauen in die Covid-19-Impfung aufbauen geht anders.

NJW: Kann man sie zumindest verstärkt an den Behandlungskosten beteiligen?

Rixen: Die meisten Menschen sind in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert. Eine Kostenbeteiligung ist möglich, wenn die oder der Versicherte sich Covid-19 vorsätzlich zugezogen hat (§ 52 I SGB V), aber das lässt sich nur schwer nachweisen.

NJW: Viele Menschen können es kaum erwarten, dass sie selbst mit einer Impfung an die Reihe kommen – ein Großteil der Bevölkerung muss ja noch monatelang darauf warten. Gibt es rechtliche Mittel und Wege, sich bei der von der Coronavirus-Impfverordnung vorgesehenen Reihenfolge nach vorne zu schieben?

Rixen: Es ist beispielsweise denkbar, dass eine GKV-versicherte Person geltend macht, der aus der Verordnung folgende Impfanspruch widerspreche der im Lichte von Art. 3 I GG ausgelegten Verordnungsermächtigung des § 20i III SGB V, weshalb ihr ein bevorzugter Zugang zur Impfung zu gewähren sei. Die Priorisierung wird meines Erachtens in der Verordnung vertretbar geregelt, sie könnte aber noch präziser normiert werden.

NJW: Im Zusammenhang mit der Impfreihenfolge heißt es von Kritikern immer wieder, diese hätte nur per Parlamentsbeschluss festgelegt werden dürfen. Wie sehen Sie das?

Rixen: Dass die Wesentlichkeitstheorie des BVerfG eine parlamentsgesetzliche Detailregelung gebietet, sehe ich nicht. Dass § 20i III SGB V das Nähere einer Verordnung überlässt, scheint mir in einer dynamischen Situation, in der schnell auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse reagiert werden muss, der richtige Weg.

NJW: Das Zulassungsverfahren wurde bei den Corona-Impfstoffen maximal verkürzt. Was bedeutet das für die Haftung für etwaige Impfschäden?

Rixen: Bei Impfungen mit zugelassenen Impfstoffen gilt immer § 60 IfSG. Die Impfung muss „von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen“ worden sein (§ 60 I 1 Nr. 1 IfSG). Das geschieht typischerweise so, dass die Länder auf die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) verweisen, die auch die Covid-19-Impfung empfohlen hat (Epidemiologisches Bulletin des RKI Nr. 2/2021).

NJW: Es gibt eine Impfpflicht gegen Masern für Kita-Kinder – ist das vergleichbar?

Rixen: Ohne „Corona“ verharmlosen zu wollen, ist die Ansteckungsgefahr bei Masern doch deutlich größer. Andererseits sterben deutlich weniger Menschen an den Masern als an „Corona“. Bei den Masern kommen zudem schon lange etablierte Impfstoffe zum Einsatz. Die Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder gegen Masern impfen zu lassen, ist schon jetzt hoch, auch wenn das natürlich noch ausgebaut werden kann. Kinder bleiben bei der Coronavirus-Impfung bislang außen vor. Richtig ist, dass die Masernimpfung auch das Personal zum Beispiel in Kitas erfasst. Begrenzte Impfpflichten für das Personal von Einrichtungen sind also nichts völlig Neues. •

Nach seiner juristischen Ausbildung in Tübingen und Löwen sowie Promotion in Gießen war Prof. Dr. Stephan Rixen zunächst als Rechtsanwalt tätig. Ab 2001 war er Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Staatsrecht und an der Forschungsstelle für das Recht des Gesundheitswesens der Universität zu Köln, wo er sich habilitierte. Seit April 2010 lehrt er Öffentliches Recht, Sozialwirtschafts- und Gesundheitsrecht an der Universität Bayreuth. Zudem ist er Mitglied des Deutschen Ethikrats.

Interview: Joachim Jahn.