Interview
„Eine historisch einmalige Krisensituation“
Interview
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Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist die Politik im Dauer-Krisenmodus. Eine Konferenz folgt auf die nächste, ständig werden Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen beschlossen. Wie läuft die Arbeit derjenigen im Maschinenraum der Gesetzgebung, die die Maßnahmen rechtssicher und gerichtsfest umsetzen müssen? Fragen an Dr. Tobias Kleiter, Leiter der Abteilung Recht und Verfassung in der Hessischen Staatskanzlei.

15. Jan 2021

NJW: Gehen wir recht in der Annahme, dass 2020 für Sie beruflich ein außergewöhnliches und besonders arbeitsintensives Jahr war?

Kleiter: Das kann man wohl sagen. 2020 war ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Jahr. Nahezu alles hat sich auf die Bewältigung der Corona-Pandemie fokussiert. Das ist selbst in der Politik, die dazu neigt, einzelne Themen immer in besonderer Weise zu priorisieren, eine besondere Situation. Und arbeitsintensiv war es natürlich auch. Auch dass die eigene Arbeit derart massive Auswirkungen auf das gesamte gesellschaftliche Leben aller Menschen im Land hat, ist sicherlich nicht alltäglich.

NJW: In der Corona-Krise werden wichtige Entscheidungen gemeinsam von der Bundeskanzlerin und den Länderchefs in der „Ministerpräsidentenkonferenz“ getroffen. Ist dieses Gremium dafür legitimiert?

Kleiter: Das Grundgesetz setzt die föderale Ordnung unseres Landes voraus. Die Landesregierungen agieren aufgrund einer bundesgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage aus dem Infektionsschutzgesetz und erlassen auf dieser Basis eigene Rechtsverordnungen. Dennoch ist es notwendig, dass Bund und Länder in einer solchen Krisensituation die erforderlichen Maßnahmen miteinander abstimmen – nicht zuletzt, um einigermaßen einheitlich zu agieren. Das ist auch infektiologisch angezeigt, weil es beispielsweise kontraproduktiv wäre, wenn einzelne Länder bei bundesweit notwendigen Maßnahmen ausscheren und es dann zu einer erhöhten Mobilität über die Ländergrenzen kommt, weil etwa Baumärkte in Hessen geschlossen sind, in Rheinland-Pfalz oder Bayern aber öffnen dürfen. Die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) mit der Kanzlerin ist für solche Abstimmungsprozesse das schon seit Jahren erprobte und am besten funktionierende Gremium. Durch die Corona-Krise ist die MPK natürlich in der öffentlichen Wahrnehmung viel deutlicher in den Blick geraten. Am Ende beruhen die Maßnahmen aber auf den von Bundestag und den Länderparlamenten beschlossenen Gesetzen und den von den Landesregierungen erlassenen Rechtsverordnungen.

NJW: Wie werden die Zusammenkünfte in den Ländern juristisch vorbereitet?

Kleiter: In der Staatskanzlei und den fachlich zuständigen Ministerien erarbeiten bei uns Fachleute Entwürfe für einzelne Maßnahmen. Diese werden vom federführenden Sozialministerium und der Staatskanzlei in Verordnungsentwürfen zusammengefasst. Dafür hat sich in der Krise ein Verfahren etabliert, das es uns ermöglicht, sehr schnell und effizient die notwendigen Schritte fachlich abzustimmen und innerhalb kürzester Zeit neue Verordnungsentwürfe oder Erlasse für die örtlich zuständigen Landkreise und Städte zu erarbeiten.

NJW: Und wie erfolgt anschließend die rechtliche Umsetzung der Beschlüsse?

Kleiter: Die Vorlagen für die Rechtsverordnungen werden entweder schon parallel oder unmittelbar nach dem Vorliegen der Beschlüsse erarbeitet und dann meist noch am selben Abend oder folgenden Tag innerhalb der Landesregierung beraten und erlassen, anschließend ausgefertigt und verkündet. Wir mussten dazu unsere Prozesse für den Erlass von Rechtsverordnungen, die normalerweise über mehrere Wochen laufen, auf wenige Tage oder gar Stunden beschleunigen. Das war und ist jedes Mal sehr ambitioniert, ist aber letztlich der Lage geschuldet, die es erforderlich macht, innerhalb kürzester Zeit zu neuen Entscheidungen zu kommen.

NJW: Welche Juristen sind daran beteiligt?

Kleiter: Das sind Juristen aus der Staatskanzlei, dem für den Infektionsschutz zuständigen Sozialministerium und dem Justizministerium, das für die rechtsförmliche Prüfung aller Gesetze und Verordnungen zuständig ist. Darüber hinaus werden zu den Maßnahmen die jeweils fachlich zuständigen Ressorts hinzugezogen.

NJW: Holen Sie dazu auch externen Rechtsrat ein?

Kleiter: Nein, wir werden natürlich durch Fachleute aus der Wissenschaft, Mediziner und Virologen beraten. Aber die juristischen Fragen bearbeiten wir eigenständig.

NJW: Gegen die Corona-Verordnungen wird regelmäßig gerichtlich vorgegangen. Werden diese Verfahren von der Staatskanzlei betreut?

Kleiter: Nein, die Staatskanzlei ist nur für die Verfahren vor dem Staatsgerichtshof und dem BVerfG zuständig. Die Normenkontrollverfahren vor dem VGH führt das insoweit zuständige Sozialministerium, das für die Corona-Verfahren allerdings eine Task-Force eingerichtet hat, die von Juristen aus allen Ministerien unterstützt wird.

NJW: Gibt es hier externen Rechtsrat?

Kleiter: In einzelnen Verfahren wurde aufgrund der schieren Menge eine Kanzlei beauftragt. Aber der Großteil der inzwischen etwa 250 Klagen wird von den Kolleginnen und Kollegen selbst bearbeitet.

NJW: Gibt es für derartige Krisensituationen bereits vorbereitete Beschlussvorlagen?

Kleiter: Die Corona-Pandemie ist eine historisch einmalige Krisensituation, auf die wir uns nicht vorbereiten konnten. Aufgrund der Tatsache, dass die Krise uns mittlerweile schon fast ein ganzes Jahr beschäftigt, können wir inzwischen auf Erfahrungen aus dem ersten Lockdown im Frühjahr, der zwischenzeitlich erfolgten teilweisen Aufhebung der Maßnahmen und dem erneuten Teil-Lockdown zurückgreifen. Aber die Lage bleibt weiterhin so dynamisch, dass wir die insgesamt über 40 Rechtsverordnungen, die wir seit Beginn der Krise erarbeitet haben, jedes Mal neu erstellen und anpassen müssen.

NJW: Welche Rechtsfragen stellen sich bei der Impfkampagne?

Kleiter: Das ist natürlich in erster Linie die Frage der Impfpriorisierung, gerade weil es jetzt zu Beginn der Impfungen nicht ausreichend viele Impfdosen gibt. Das ist eine sehr schwierige rechtlich-ethische Frage, weil die Entscheidung darüber, wer zuerst geimpft wird, natürlich einen Grundrechtseingriff für diejenigen Menschen bedeutet, die nicht sofort drankommen, obwohl der Impfstoff zugelassen, aber eben nur begrenzt verfügbar ist. Darüber hinaus stellen sich medizinrechtliche, aber auch haftungsrechtliche Fragen und nicht zuletzt auch Fragen des Datenschutzes im Umgang mit sensiblen Patientendaten.

NJW: Die Corona-Maßnahmen werden von der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft kritisch begleitet. Empfinden Sie das als konstruktiven Beitrag, oder nervt das manchmal?

Kleiter: Wir haben von Beginn an die Beiträge aus Praxis und Wissenschaft als sehr konstruktiv und hilfreich empfunden. Das Infektionsschutzrecht hat ja zugegebenermaßen für uns alle, aber auch in der Wissenschaft, bis zum März letzten Jahres eher ein Nischendasein geführt. Deshalb waren und sind wir für die konstruktiv-kritische Begleitung unserer Arbeit sehr dankbar. Das war auch zuletzt bei der jüngsten Novelle des Infektionsschutzgesetzes so. Hier konnten wir Länder nach einer sehr guten Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags noch einmal unmittelbar Einfluss nehmen und den Gesetzentwurf nicht unerheblich verändern. Da waren die kritischen Stimmen aus der Wissenschaft sehr hilfreich. •

Ministerialdirigent Dr. Tobias Kleiter leitet die Abteilung Recht und Verfassung in der Hessischen Staatskanzlei. Der ehemalige Staatsanwalt stammt aus Limburg an der Lahn. Nach seinem Studium und der anschließenden Promotion an der Philipps-Universität in Marburg war er in der hessischen Justiz sowie als Büroleiter des Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag tätig.

Interview: Tobias Freudenberg / Joachim Jahn.