Interview
Ein Kläger mit 500 Prozessen
Interview
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Wer häufig die Justiz in Anspruch nimmt, wird oft als Querulant eingestuft. Tatsächlich bereiten Vielfachkläger den Gerichten Arbeit, verursachen Kosten und teilweise sogar Ängste. Darüber sprachen wir mit dem Richter am LSG Berlin-Brandenburg Dirk Bumann.

28. Apr 2022

NJW: Wodurch fallen Querulanten in der Justiz auf – und sind die identisch mit „Intensivpetenten“?

Bumann: Da würde ich unterscheiden. Querulanten sind laut Duden meist männliche Personen, die sich unnötigerweise beschweren und dabei starrköpfig auf ihr vermeintliches Recht pochen; kennzeichnend ist also die Qualität des Begehrens. Bei Intensivpetenten wird demgegenüber – etwa in einem hessischen Gesetzentwurf zur Einführung einer Verfahrensgebühr für „Vielkläger“ – auf die Anzahl der Verfahren, also die Quantität abgestellt. Es dürfte allerdings eine sehr große Schnittmenge geben. Wer zu querulatorischem Verhalten neigt, wird sich nicht nur einmal unnötigerweise und starrköpfig beschweren. Andererseits kommen gerade im sozialgerichtlichen Bereich auch durchaus Menschen mit einer Vielzahl gerichtlicher Ver­fahren vor, die begründet sein können. Ist etwa die Verwertung eines Eigenheims als Vermögen im Streit, können mehrere Leistungszeiträume davon betroffen sein. Dann müssen mehrere Verfahren geführt werden.

NJW: Was steckt dahinter: eine schlechte Erfahrung als Auslöser, ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal oder auch eine psychische Störung?

Bumann: Nach meinen Erfahrungen können diese Ursachen alle als Erklärung in Betracht kommen und noch deutlich mehr darüber hinaus. Jeder Mensch ist einmalig und seine Motivation für sein Handeln damit auch. Dies zeigen ja auch die Erfahrungen während der ­Corona-Pandemie, in der gern zwischen „Aluhüten“, „Reichsbürgern“, „Querdenkern“ und „Verschwörungstheoretikern“ unterschieden wurde. Ein wesentlicher Punkt für die erhebliche Zunahme solcher Verfahren dürfte allerdings der flächendeckende Einzug der Informationstechnologie und des Internets sein. Dies hat die Informationsbeschaffung (etwa in Foren und auf den Homepages der Gerichte) sowie die Erstellung, Bearbeitung, Vervielfältigung und Versendung von Schriftsätzen erheblich vereinfacht. Zudem lassen sich dort Mitstreitende finden, und ein Austausch wird erheblich vereinfacht. So ist nicht nur eine Zunahme der Anzahl der Verfahren zu beobachten, sondern auch eine Zunahme des Umfangs der einzelnen Verfahren.

NJW: Kennen Sie ein besonders krasses Beispiel?

Bumann: Das Land Hessen ist bei der erwähnten Gesetzesinitiative von einem Intensivpetenten ausgegangen, wenn in zehn Jahren mehr als zehn Verfahren anhängig gemacht werden. Beim hessischen LSG war dies damals bei 20 % der Klägerinnen und Kläger der Fall. Vergleichbare Zahlen waren für das LSG Berlin-Brandenburg ebenfalls zu ermitteln. Der Spitzenreiter hier betrieb in zehn Jahren allein rund 500 Verfahren. Geht man von durchschnittlich rund 2.000 Euro an Verfahrenskosten für ein solches Verfahren vor dem LSG aus, so sind allein durch diesen Kläger dem Steuerzahler Kosten in Höhe von rund einer Million Euro erwachsen.

NJW: Gibt es einen Punkt, an dem Gerichte sich mit weiteren Eingaben nicht mehr befassen müssen?

Bumann: Im Hinblick auf Art. 19 IV GG gehe ich grundsätzlich nicht davon aus, dass weitere Eingaben einfach unbearbeitet bleiben können. Dies zeigt im Sozialrecht im Übrigen auch § 44 SGB X und die dort eingeräumte Möglichkeit, sogenannte Überprüfungsanträge zu stellen. Diese Regelung findet selbst nach rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren und im Wesentlichen ohne zeitliche oder quantitative Begrenzung Anwendung. Es kommt daher durchaus vor, dass gleich mehrere solche Überprüfungsverfahren mit demselben Begehren bis hin zum BSG betrieben werden. Im Sozialrecht erfolgte damit eine Relativierung der Rechtssicherheit zugunsten vermeintlicher Gerechtigkeit. Nicht zuletzt für Intensivpetenten wird so das Einfallstor weit geöffnet.

NJW: Welche Rolle spielen da Anwälte?

Bumann: Es dürfte regelmäßig deren Berufsverständnis entsprechen, wenig sinnvolle Gerichtsverfahren nicht einzuleiten und nicht zu führen. Allerdings ist vereinzelt festzustellen, dass Anwälte extrem viele Verfahren anhängig machen. So hat ein einzelner Rechtsanwalt meist auf Grundlage von Generalprozessvollmachten allein im Jahr 2012 bei einem SG in Brandenburg 5.200 neue Klageverfahren anhängig gemacht.

NJW: Justizangehörige fühlen sich manchmal richtiggehend in Not. Wie sollen sie vorgehen?

Bumann: Eine Patentlösung wird es nicht geben. Als Anhänger von Immanuel Kant würde ich jeden Menschen grundsätzlich so behandeln, wie ich selbst behandelt werden möchte. Auf professioneller Ebene hat es sich bewährt, höflich aber bestimmt aufzutreten. Es sollte der klare Eindruck vermittelt werden, dass eine Kommunikation nur auf sachlicher Ebene erfolgt. Sollten die Petenten diese verlassen, etwa Beschimpfungen oder Bedrohungen aussprechen, so würde ich unmissverständlich klarstellen, dass ich auf dieser Basis eine Kommunikation nicht fortsetze.

NJW: Was sind die gravierendsten Folgen?

Bumann: Am wichtigsten ist eine Bindung von Ressourcen bei Gericht und Verwaltung schon allein durch die Vielzahl dieser Verfahren. Diese Ressourcen stehen logischerweise für andere Verfahren nicht zur Verfügung. Täglicher Alltag sind auch Anrufe dieser Menschen, die oft keinen erfreulichen Verlauf nehmen; es erfolgen durchaus Beleidigungen und Bedrohungen. Strafanzeigen und Dienstaufsichtsbeschwerden sind ebenfalls keine Seltenheit. Auch gewaltsame Übergriffe kommen vor. Ein „Intensivpetent“ wurde zum Beispiel ab dem Betreten des Gerichtsgebäudes immer von zwei Wachtmeistern begleitet, weil er die Anwendung körperlicher Gewalt angedroht hatte.

NJW: Was sollte der Gesetzgeber tun?

Bumann: Die Initiative aus Hessen zeigt, dass tatsächlich Handlungsbedarf besteht. Um sinnvoll handeln zu können, sollte das Problem allerdings zunächst genauer beleuchtet werden. So liefe die Einführung einer Kostenpflicht im sozialgerichtlichen Verfahren zur Vermeidung von Verfahren meines Erachtens wahrscheinlich ins Leere, weil nur eine Verlagerung in ein Verfahren auf Prozesskostenhilfe erfolgen würde. Gleiches gilt für die Einführung von Missbrauchsgebühren, die am Ende bei finanziell nicht leistungsfähigen Menschen nicht vollstreckt werden können. Gleichwohl bieten sich schon heute diverse Maßnahmen an, diesem Problem zu begegnen. Möglich ist im sozialgerichtlichen Verfahren unter anderem eine konsequente Anwendung verfahrensvereinfachender Regelungen. Die Spanne reicht außerdem von einer ausreichenden Personalausstattung bis hin zu Gesetzesnovellierungen im prozessualen und materiellen Recht.

NJW: Kommt es auch mal vor, dass eine solche Person am Ende tatsächlich gewinnt?

Bumann: Dies kommt schon deshalb vor, weil durch die Vielzahl von Verfahren die Qualität einer Entscheidung leiden kann. Werden von einem Petenten Gerichtsverfahren geführt, so ist zur Klärung der Sach- und Rechtslage grundsätzlich die Beiziehung der Verwaltungs­akten erforderlich. Sind diese dem Gericht übersandt, so kann die Verwaltung selbst darauf bei einer aktuellen Entscheidung nicht zurückgreifen, und es können sich Fehler einschleichen. Insgesamt dürfte allein die Existenz vieler Verfahren einer Person, die zudem eventuell noch äußerst umfangreich sind, die Chance von Fehlern der Verwaltung und der Gerichte erhöhen. Diese Fehler zu vermeiden, ist gerade eine der großen Herausforderungen bei dem Umgang mit Intensivpetenten. In der Sache führen diese Menschen oft immer wieder mit demselben Begehren Klagen. Bestehen die behaupteten Ansprüche nicht, so führt auch eine häufige Wiederholung regelmäßig nicht zu einem Erfolg.

NJW: Hat jemand in Michael-Kohlhaas-Manier schon einmal etwas Positives für die Gerechtigkeit erreicht?

Bumann: Michael Kohlhaas spielt ja in der Übergangszeit des mittelalterlichen Selbsthilferechts zum absolutistischen Staat. Dieses Spannungsverhältnis existiert nicht mehr. Gleichwohl werden die Regeln des Staates nicht von jedem akzeptiert. In meinem Berufsalltag habe ich einen Kläger erlebt, der im langjährigen Bezug von Grundsicherungsleistungen stand und als erklärtes Ziel die Beseitigung der Sanktionsregelungen bei Pflichtverletzungen hatte. Letztlich ist es sein Ziel, ein bedingungsloses Grundeinkommen zu erreichen. Zu diesem Zweck hat er absichtlich zahlreiche Sanktionstatbestände verursacht. Das BVerfG hat die Einschätzung dieses Intensivpetenten letztlich im Wesentlichen bestätigt (NJW 2019, 3703) und große Teile des § 31 SGB II als verfassungswidrig angesehen.

Interview: Prof. Dr. Joachim Jahn.