Urteilsanalyse
Ein Fahrradkurier ist selbständig tätig
Urteilsanalyse
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Fahrradkuriere, die aufgrund eines Rahmenvertrages Dienstleistungen für einen Kurierdienst übernehmen, können laut LSG Hessen selbständig tätig sein, wenn sie keinem Weisungsrecht hinsichtlich Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit, die über die Weisungsbefugnisse in einem freien Dienstverhältnis hinausgehen, unterliegen. Dafür spreche das wirtschaftliche Risiko wie die Zahlung einer Vermittlungsgebühr und die Nutzung eines eigenen Fahrrades.

19. Jan 2021

Anmerkung von
Rechtsanwältin Christel von der Decken, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 01/2021 vom 15.01.2021

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Sachverhalt

Die Klägerin betreibt einen Kurierdienst, überwiegend mit Fahrradkurieren. Auf Anregung der Klägerin beantragte die Beigeladene (Kurierfahrerin) im Juli 2000 die Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status für die Zeit ab 01.09.1994. Zum Ende August 2000 war sie nicht mehr tätig. Gemäß vertraglicher Vereinbarung wurden die Transportdienstaufträge über eine Funkzentrale gegen Kreditscheine der Klägerin erteilt. Der nach den Kreditscheinen erzielte monatliche Umsatz wurde der Beigeladenen gutgeschrieben, bei niedrigerem Umsatz war die Beigeladene zum Ausgleich verpflichtet. Für die erteilten Kurieraufträge zahlte die Beigeladene eine Vermittlungsgebühr. Eine Garantie für die Erteilung von Kurierauftragen und eine Haftung der Klägerin für abgeschlossene Fahraufträge bestand nicht, auch nicht bei technischen Störungen in der Zentrale oder beim Netzbetreiber. Die Klägerin stellte der Beigeladenen ein Funkgerät gegen eine Leihgebühr zur Verfügung Zur Sicherstellung, dass das Funkgerät der Beigeladenen bei der Durchführung der Aufträge verfügbar war, trug sich die Beigeladene in eine Anwesenheitsliste für die von ihr selbst geplanten Tätigkeitszeiten ein. Die Beigeladene haftete für vorsätzlich oder fahrlässig entstandene Schäden, insbesondere für den Fall, dass die von der Klägerin abgeschlossene Schadensversicherung die Schadensregulierung ablehne. Entsprechendes galt auch für die von der Klägerin abgeschlossene Transportversicherung. Die Beigeladene nutzte ihr eigenes Fahrrad. Sie war nicht verpflichtet, Aufträge anzunehmen. Anfänglich hatte sie Aufträge für verschiedene Kunden, später nur noch Festtouren für Dauerkunden der Klägerin angenommen. Die Preise wurden allen auftragsausführenden Kurieren der Klägerin in einer Liste zur Orientierung für die Kunden der Klägerin zusammengestellt. Die Kuriere konnten auch andere Preise verlangen.

 Den Antrag auf Feststellung der Beigeladenen, eine selbständige Tätigkeit festzustellen, lehnte die Beklagte ab. Gegen den Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein. Die Beigeladene hatte inzwischen ihre Auffassung geändert und im Widerspruchsverfahren nun geltend gemacht, abhängig beschäftigt zu sein. Der Widerspruch der Klägerin wurde zurückgewiesen. Die Beigeladene sei in die Arbeitsorganisation eingegliedert gewesen und weisungsabhängig. Sie habe die ihr zugewiesenen festen Touren durchgeführt, ihr sei ein Funkgerät zur Verfügung gestellt worden und sie hätte sich in einen Dienstplan eintragen müssen. Sie habe auch keine Möglichkeit gehabt, die Preise frei zu verhandeln. Es habe eine feste Preisliste gegeben. Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht erhoben. Die Beigeladene sei nicht in den Betrieb eingegliedert gewesen. Die Abrechnung erfolgte auf Grundlage der Umsatzauflistung der Klägerin; eigene Rechnungen habe sie nicht gestellt. Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 15.03.2015 abgewiesen. Gegen das Urteil hat die Klägerin Berufung zum LSG Hessen eingelegt.

Entscheidung

Das LSG hat der Berufung stattgeben. Bei dem zwischen der Klägerin und der Beigeladenen geschlossenen Vertrag habe es sich zwar entgegen der Vertragsüberschrift nicht um einen Vermittlungsvertrag, sondern vielmehr um einen Rahmenvertrag gehandelt, der den Transport als Dienstleistung zur Erfüllung der von der Klägerin gegenüber ihren Auftraggebern eingegangenen entsprechenden Verpflichtungen, zum Gegenstand habe. Die Beigeladene sei als Fahrradkurierin nicht abhängig beschäftigt, sondern selbständig tätig gewesen. So sei ein Frachtführer nach § 433 a.F. HGB (§ 418 HGB), regelmäßig auch dann selbständiger Gewerbetreibender, wenn die Zusammenarbeit mit seinem Auftraggeber auf einem auf Dauer angelegten entsprechenden Rahmenvertrag beruhe. Die Beigeladene sei nicht persönlich abhängig gewesen und habe keinen Weisungen der Klägerin inhaltlich, hinsichtlich Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit, welches über die Weisungsbefugnisse in einem freien Dienstverhältnis hinausgeht, unterlegen. Die Beigeladene war nicht in die betriebliche Organisation eingegliedert, es bestand keine vertragliche Verpflichtung zur Übernahme von Transportaufträgen und auch nicht zur Übernahme von Tätigkeiten in Bezug auf den weiteren Geschäftsbetrieb der Klägerin, wie z.B. der Telefon-Funk-Zentrale. Die Eintragung der Beigeladenen in die Anwesenheitsliste führte nicht zur Eingliederung in den Geschäftsbetrieb der Klägerin. Denn die Anwesenheitsliste diente im Wesentlichen der Sicherstellung der Verfügbarkeit eines Funkgeräts bzw. der Übersicht der Klägerin, wer für die Vergabe der anstehenden Transportaufträge zur Verfügung stand. Hinsichtlich der Gestaltung der Arbeitszeit und der Dauer sei die Beigeladene frei gewesen. Es bestand weder nach den vertraglichen Regelungen noch nach der tatsächlichen Durchführung eine Berechtigung der Klägerin, die Beigeladene einseitig zur Übernahme von Aufträgen zu verpflichten. Darüber hinaus war die Beigeladene vertraglich berechtigt, für längere zusammenhängende Zeiträume keine Dienste zu übernehmen, also Urlaub zu machen. Dies sei atypisch für ein Beschäftigungsverhältnis und deute auf die Eigenverantwortlichkeit eines freien Dienstverhältnisses (BAG, Urteil vom 27.06.2001 – 5 AzR 561/99) hin. Der Ort und die Art der Ausübung sei durch den konkreten Transportauftrag der Kunden der Klägerin vorgegeben. Die Tatsache, dass sich die Beigeladene verpflichtet gefühlt habe, Tätigkeiten bzw. Fahrten durchzuführen, die andere Kurierfahrer nicht übernahmen oder nicht übernehmen wollten, sei eine subjektiv empfundene Überzeugung der Beigeladenen, die aber von den vertraglichen Regelungen nicht getragen werde. Schließlich habe es der Beigeladenen freigestanden, für andere Auftraggeber tätig zu werden und auch einen eigenen Kundenstamm aufzubauen.

Für die selbständige Tätigkeit spreche auch das wirtschaftliche Risiko. Die Beigeladene habe ihr eigenes Fahrrad eingesetzt und das Kostenrisiko der Wartung und Instandhaltung gegebenenfalls auch der Neuanschaffung getragen. Die Tatsache, dass die Beigeladene eine Vermittlungsgebühr im Vorhinein an die Klägerin zu zahlen hatte und die dadurch bestehende Verpflichtung, Kurierdienstaufträge anzunehmen, sei von der persönlichen Abhängigkeit eines abhängig Beschäftigten zu unterscheiden. Die vertraglich übernommene Zahlungspflicht sei auch nicht so weitgehend gewesen, dass die Beigeladene praktisch gezwungen war, ständig für die Klägerin zur Verfügung zu stehen. Diese wirtschaftliche Abhängigkeit habe keinen Einfluss auf den sozialversicherungsrechtlichen Status.

Praxishinweis

1. Das BAG hatte mit Urteil vom 27.06.2001 (NZA 2002, 742) entschieden, dass ein Kraftfahrer auch selbständig Gewerbetreibender sei, wenn der Fahrer in der Ausübung seiner Tätigkeit weniger frei sei als der Frachtführer i.S. § 418 HGB (§ 433 HGB a.F.). Das LSG hat zutreffend zunächst die vertraglichen Vereinbarungen für die Beurteilung herangezogen und festgestellt, dass die Beigeladene in ihren Tätigkeiten frei war; sie sollte lediglich angeben, an welchen Tagen sie welche Touren sie annehmen wollte. Untypisch für eine abhängige Beschäftigung ist jedenfalls die Zahlung einer Vermittlungsgebühr für die Auftragserteilung und auch die Zahlung einer Leihgebühr für das Funkgerät.  Wenn heutzutage überwiegend Apps oder Plattformen über Smartphones genutzt werden, stehen diese Smartphones im Eigentum der Kurierfahre*innen, so dass diese erst Recht die Verantwortung für die Funktionsfähigkeit und damit das Risiko tragen, einen Auftrag zu erhalten.

2. Das LSG Bayern hat mit Urteil vom 03.05.2018 (L 15 R 5144/16, n.v.) ebenfalls die selbständige Tätigkeit eines Kurierfahrers bestätigt und ausgeführt, dass für ein Weisungsrecht des Auftraggebers von vornherein kein Raum sei, soweit die Leistungspflichten bereits vertraglich konkretisiert seien (s.a. SG Düsseldorf, BeckRS 2015, 70463 zur Selbständigkeit eines Kuriers von Warensendungen mit eigenem, selbst angeschafftem Pkw und Tragung der eigenen Kraftstoffkosten,  insbesondere auch im Verhältnis zum geringen Verdienst der Tätigkeit und dem wirtschaftlichen Aufwand für den Erwerb und den Betrieb des Fahrzeugs). Dagegen hat das LSG Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 22.06.2020 (BeckRS 2020, 27388) die Tätigkeit eines Transportfahrers, ohne Nutzung eines eigenen Fahrzeuges, als Beschäftigung angesehen. Umso mehr wird man immer wieder sorgfältig den jeweiligen Einzelfall betrachten müssen. (so auch: Christopher Weuthen, Gute Arbeit 2020, Nr. 3 17-20: Versprochen, aber nicht geliefert?  - betrifft Foodora in Australien –auch da kommt es auf die Gesamtbetrachtung aller Umstände an).

LSG Hessen, Urteil vom 27.08.2020 - L 8 BA 4/20, BeckRS 2020, 37643