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Ein Desaster für Aufseher und Prüfer
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Mit der Wirecard AG ist soeben ein Unternehmen aus dem Dax-30-Index kollabiert. Der Fall zeigt: Das Enforcement-Verfahren nach § 106 I WpHG iVm § 342b II HGB zur Überwachung von Unternehmensabschlüssen ist zu träge. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) braucht mehr Kompetenzen.

9. Jul 2020

Als Auslöser des Zusammenbruchs der Wirecard AG gilt eine Bilanzposition von 1,9 Milliarden Euro, die „nicht da“ oder „verschwunden sein soll“. Obwohl die Einzelheiten des Falls noch nicht bekannt sind, deutet vieles auf einen Klassiker der Kapitalmarktkriminalität hin, bei dem nicht vorhandene Umsätze vorgespiegelt oder vorhandene Umsätze aufgebläht werden. Die Verantwortung dafür liegt bei denen, die Umsätze erfinden und so Bilanzen fälschen. Allerdings gibt es Institutionen und Gesetze, die solche Taten verhindern oder ihre Aufdeckung erleichtern sollen. Gemeint sind Abschlussprüfer und Aufsichtsbehörden – im Fall Wirecard EY (vormals Ernst & Young) sowie die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin).

Einiges spricht dafür, dass von diesen Institutionen Hinweise auf ein deliktisches Verhalten übersehen wurden, obwohl es in der Vergangenheit bereits ähnliche Fälle gab. Wer sich mit dem Fall Comroad beschäftigt, stößt auf eine Bilanzmanipulation, die sich von 1998 bis 2002 erstreckte und einen der großen Kriminalfälle am Neuen Markt darstellte. Es ging um künstlich aufgebauschte Umsätze. Aufgedeckt wurde dieser Bilanzskandal nicht etwa durch Aufsichtsbehörden oder Wirtschaftsprüfer, sondern durch eine mutige Journalistin namens Renate Daum (Daum, Phantompartnern in Asien auf der Spur, in: Schröder/Sethe, Kapitalmarktrecht und Pressefreiheit, 9 ff.). Sie zweifelte mit ihren Publikationen das Zahlenwerk der Comroad AG an. Daraufhin wurde sie vom Unternehmen und dessen Abschlussprüfer juristisch und öffentlich angegriffen. Frau Daum ließ jedoch nicht locker und reiste nach Asien, um die angeblichen Umsätze und Geschäftspartner zu überprüfen – vieles erwies sich als Luftbuchungen.

Verblüffende Parallelen

Im Fall Wirecard recherchierte ein Journalist der Financial Times und warf dem Unternehmen vor, über das „Drittkundengeschäft in Asien“ Umsätze vorzutäuschen. Die Parallelität der Fälle verblüfft. Nach ersten Mutmaßungen in einem Finanzblog im Jahr 2016 datieren die ersten konkreten Vorwürfe hinsichtlich zweifelhafter Bilanzierungen seitens der Wirecard AG vom 30.1.2019. Es folgten weitere Publikationen des Journalisten und Erwiderungen des Unternehmens, die zum Teil zu massiven Kurseinbrüchen bei dessen Aktien führten. Im Februar 2019 verhängte die BaFin dann mittels einer Allgemeinverfügung ein befristetes Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien, denn jener Journalist geriet in den Verdacht, mit Leerverkäufern gemeinsame Sache zu machen. Die BaFin erstattete sogar Strafanzeigen wegen des Verdachts der Marktmanipulation (vgl. Schröder, Journalistische Berichterstattung und Strafrecht, in Schröder/Sethe, 75 ff.; ders., Strafrechtliche Risiken für den investigativen Journalismus?, NJW 2009, 465 ff.). Diese Maßnahmen dienten dazu, den Marktmissbrauch (Marktmanipulation und Insiderhandel) im Handel betroffener Finanzinstrumente zu unterbinden.

Allerdings blieb die vorgelagerte Frage, ob die Bilanzen die wahren Verhältnisse widerspiegeln, ungeklärt. Aus Anlegersicht hatte sich die BaFin durch das Leerverkaufsverbot sogar auf die Seite des Unternehmens geschlagen. Das war vorschnell. Und eine durch die Wire card AG in Auftrag gegebene Untersuchung seitens der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, die hinsichtlich der in Rede stehenden Umsätze aus dem Drittgeschäft keine Entlastung brachte, ließ für gut informierte An leger Zweifel aufkommen, die dann durch die Weigerung von EY, den Jahresabschluss 2019 zu testieren, zur Gewissheit wurden. Zahlreiche Privatanleger konnten dem schon nicht mehr folgen und vertrauten weiterhin dem Management, das nunmehr unter dem Verdacht des Marktmissbrauchs steht.

Das Geschehen offenbart eine Schwachstelle des Aufsichtsrechts. Die BaFin überwacht nach §§ 114 ff. WpHG zwar die rechtzeitige Vorlage des Jahresabschlusses, aber die inhaltliche Kontrolle der Rechnungslegung jenseits der eigentlichen Abschlussprüfung folgt dem trägen und teilweise privatrechtlich geprägten Verfahren nach § 106 I WpHG iVm § 342b II HGB. Das sollte sich ändern. Die Behörde muss in der Lage sein, ad hoc Anhaltspunkten unseriöser Bilanzierung nachzuspüren und gegebenenfalls den Sachverstand Dritter hinzuzuziehen. Denn anders kann die BaFin auch den Marktmissbrauch nicht bekämpfen, wenn dieser wie in den Fällen Comroad oder Wirecard in Zusammenhang mit der Rechnungslegung steht.

Prof. Dr. Christian Schröder lehrt Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Halle-Wittenberg.