Urteilsanalyse
Ein Berater ist kein «Lehrer» i.S.d. § 2 SGB VI
Urteilsanalyse
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Die die Rentenversicherungspflicht gem. § 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI auslösende Lehrtätigkeit ist wesentlich durch eine Wissensvermittlung für eine bestimmte Vielzahl unbestimmter Anwendungssituationen geprägt. Davon abzugrenzen sind Beratungen, die eher durch eine Nähe zur Lebenssituation des konkreten Klienten und dessen konkreten Problemen gekennzeichnet ist. So differenziert das LSG Niedersachsen in einem Urteil vom 04.11.2020.

3. Feb 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 02/2021 vom 29.01.2021

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Sachverhalt

Die 1970 in Indien geborene Klägerin wanderte 1983 aus, studierte später in den USA und erwarb dort einen Master „International Public Health“. Im Jahre 2000 meldete sie ein Gewerbe an für Unternehmens-Marketingberatung, Sprache und Kulturtraining. Seit 2007 führt sie interkulturelle Trainings (Vorbereitung von Mitarbeitern und ggf. deren Partnern nach ihrem Auslandseinsatz) durch. Sie vermittelt dabei auch kulturgeschichtliches Wissen und diskutiert die Unterschiedlichkeiten zwischen deutscher und ausländischer Mentalität. Sie vermittelt Grundlagen einer effektiven Kommunikation sowie eines effektiven Umgangs mit ausländischen Kollegen und vermittelt Orientierung für den privaten beruflichen Alltag. Solche Art Qualifizierungsmaßnahmen „interkulturelle Sensibilisierung Indien“ führt sie seitdem Jahr für Jahr durch. Daneben war die Klägerin auch für ein Bildungswerk tätig und hat Lehraufträge an einer Fachhochschule übernommen. Die Clearingstelle bestätigt auf Antrag die Selbständigkeit der Klägerin. Durch angefochtenen Bescheid errechnet die Beklagte aus den erzielten Honoraren Beiträge zur Rentenversicherung, da die Klägerin gem. § 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI als Lehrerin der Rentenversicherungspflicht unterliege. Die beratende Tätigkeit enthalte wesentliche Elemente der Lehre.

Auf die Klage hebt das SG die angefochtenen Bescheide auf. Bei der Klägerin läge in der Gesamtschau eine beratende Tätigkeit vor. Die Klägerin habe die Mitarbeiter auf ihre Auslandseinsätze vorbereitet und mithin in ihrer konkreten Berufssituation betreut und Ratschläge zu konkreten Problemen gegeben. Dies zeige, dass die Tätigkeit der Klägerin dort sich auf die konkrete Lebenssituation des Klienten und dessen konkrete Probleme bezogen habe. Das gelte auch für die interkulturellen Trainings. Gegen dieses Urteil hat die beklagte DRV Berufung eingelegt. Der Schwerpunkt der Klägerin sei im lehrenden und gerade nicht im beratenden Bereich angesiedelt. Die Klägerin habe Trainings im interkulturellen Bereich im Rahmen von Workshops durchgeführt. Dabei schöpfe sie aus dem Wissen, das sie in Indien gesammelt habe und gebe dieses an die Teilnehme weiter.

Entscheidung

Das LSG weist die Berufung zurück. Nach dem BSG (FD-SozVR 2015, 372907) sind Beratertätigkeiten rechtlich wesentlich von der Tätigkeit als Lehrer zu unterscheiden. Die Klägerin übte im streitigen Zeitraum als Sprach- und Kulturtrainerin für verschiedene Auftraggeber Tätigkeiten aus. Die Beratungstätigkeiten, die sowohl zeitlich als auch der Vergütung nach im Mittelpunkt standen, sind nicht durch Lehre geprägt. Diese Tätigkeit als Sprach- und Kulturtrainerin stellte sich im vorliegenden Fall nicht schwerpunktmäßig als lehrende Tätigkeit dar.

Lehrer vermitteln durch Erteilung von theoretischem und praktischem Unterricht anderen Allgemeinbildung oder spezielle Kenntnisse, Fähigkeiten oder Fertigkeiten, gleich auf welchem Gebiet. Dabei kann sozialversicherungsrechtlich bereits jede Anleitung zu einem gemeinsamen Tun genügen, selbst wenn sie keinerlei Gedächtnisspuren hinterlässt und das angeleitete gemeinsame Tun deshalb außerhalb des Unterrichts nicht reproduziert werden kann.

Abzugrenzen von der lehrenden Tätigkeit im Sinne des § 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ist eine beratende Tätigkeit. Anders als die Lehrtätigkeit liegt ihr Schwerpunkt gerade auf der Eröffnung konkreter Handlungsmöglichkeiten zu einem bestimmten Anwendungszweck. Ein derartiges Verständnis, das Beratung und Lehre rechtlich wesentlich unterscheidet, liegt auch § 2 Abs. 1 des Rechtsdienstleistungsgesetzes zugrunde.

Wo sich die Bereiche der Lehr- und Beratertätigkeit überlagern, müssen sie nach ihrem sachlichen Schwerpunkt getrennt werden: Während Lehrer eher generelles Wissen vermitteln, das die Lernenden aufnehmen und rezipieren sollen, gehen Berater regelmäßig auf individuelle Probleme des jeweils Ratsuchenden konkret helfend ein. Dafür analysieren Berater aufgrund ihrer fachspezifischen Kenntnisse typischerweise ein fachliches Einzelproblem des Klienten, dem sie ihr Wissen zur Verfügung stellen. Genauso verhält es sich auch im Falle der Klägerin. Ihre maßgebliche Tätigkeit als Sprach- und Kulturtrainerin (Coaching, Consulting, Workshop, Seminar) ist in der gebotenen Gesamtschau ihrem Typus nach schwerpunktmäßig nicht als lehrende Tätigkeit, sondern als beratende Tätigkeit einzuordnen. Sie betreut dabei schwerpunktmäßig eine zahlenmäßig überschaubare Zahl von Teilnehmern, um diese als Mitarbeiter und teilweise auch deren Lebenspartner in ihrer jeweiligen konkreten Lebenssituation auf ihre Auslandseinsätze in Indien vorzubereiten bzw. umgekehrt in Deutschland zu begleiten.

Praxishinweis

1. Das LSG wendet mit überzeugenden Argumenten die Grundsätze an, die das BSG (a.a.O.) entwickelt hat. Auch wenn das Coaching sich auf mehrere Personen bezieht, geht es doch ganz gezielt um Wissensvermittlung und Kommunikationsfähigkeiten bezogen auf berufliche Aktivitäten der einzelnen Ansprechpartner. Dahinter tritt zurück, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum von 2008 bis 2014 auch einen Lehrauftrag an einer Fachhochschule hatte und in geringem Umfang auch Sprachtraining vermittelte.

Unternehmensberatung ist nicht identisch mit Lehrtätigkeit i.S.d. § 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI. Einen Grenzbereich stellt die Betreuung von Sportlern dar. Dazu hat das LSG Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 30.09.2020 (BeckRS 2020, 36942) ausführlich Stellung genommen: Wer – ggfs. auch nebenberuflich – Volleyballmannschaften trainiert unterliegt als „Lehrer“ i.S.d. § 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI der Rentenversicherungspflicht. Unter den weit zu verstehenden Begriff des Lehrers fällt die Vermittlung von Allgemeinbildung oder – wie im Fall des Volleyballtrainers – speziellen Kenntnissen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten durch die Erteilung von theoretischem oder praktischem Unterricht. Jedenfalls kann in der Oberliga bzw. Bezirksliga und in Jugendmannschaften nicht davon ausgegangen werden, dass die Sportler die Sportart vollständig beherrschen. Hier bleibt die Vermittlung von Wissen durch einen Lehrer notwendig. Dafür spricht im Falle des LSG NRW auch dessen A-Lizenz.

2. Für Unternehmensberater gibt es keine – vergleichbar den freien Berufen – berufsständischen Versorgungswerke, die eine Pflicht-Altersversorgung umsetzen. Vor diesem Hintergrund gibt es in der Politik schon seit längerem Initiativen, die auf eine Erweiterung des Personenkreis abzielt, der der Rentenversicherungspflicht unterliegt (vgl. nur Steinmeyer, Gutachten B zum 73. Deutschen Juristentag 2020, S. B 56 ff.). Auch wenn die Klägerin das Ergebnis der Entscheidung des LSG begrüßt, muss sie sich ihrerseits die Frage stellen, wie sie ihren Unterhalt im Alter sicherstellt. Die durch angefochtenen Bescheid von ihr verlangten Beiträge mögen in der Gesamtsumme erheblich erscheinen (hier 34.401 EUR für den Zeitraum 2008 bis 2013). Ob sie mit diesem Betrag eine höhere Altersrente durch private Vorsorge erreichen kann, ist höchst zweifelhaft – auch wenn man die steuerliche Absetzbarkeit der Beiträge mitberücksichtigt. Die Klägerin ist seit dem Jahr 2000 mit diesem Gewerbe tätig. Sie kann auf der Grundlage des Geburtsdatums also nicht mehr in den Genuss der zum 01.01.2021 in Kraft tretenden Grundrente kommen. Die Beiträge, die man von der Klägerin verlangt, führen – auch wenn man die Beitragspflicht bis zum 67. Lebensjahr fortschreibt, zu einem Rentenanspruch, der kaum das Niveau der Grundsicherung (Regelsatz + KdU) erreichen wird. So gesehen spart die Klägerin mit dem Urteil bares Geld. Dennoch: Ab 01.01.2021 regelt § 82a SGB XII einen besonderen Freibetrag für Personen mit Grundrentenzeiten oder entsprechenden Zeiten aus anderweitigen Alterssicherungssystemen. Ob man die Klägerin, wenn sie tatsächlich Beiträge aus einer pflichtversicherten Selbständigkeit zahlt, später einmal von diesem Freibetrag wirklich ausschließen kann, erscheint unter dem Aspekt der Gleichbehandlung zweifelhaft, jedenfalls aber diskussionswürdig. Man wird nun sicherlich abwarten, wie sich die Regelung des § 82a SGB XII unter dem neuen Recht tatsächlich auswirkt.

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 04.11.2020 - L 2 R 48/18, BeckRS 2020, 31760