Urteilsanalyse
Ein "tätlicher Angriff" erfordert keinen Körperverletzungsvorsatz
Urteilsanalyse
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Unter dem Begriff des tätlichen Angriffs ist eine mit feindseligem Willen unmittelbar auf den Kör-per des Beamten zielende Einwirkung zu verstehen, und zwar unabhängig von ihrem Erfolg. Zu einer körperlichen Berührung braucht es nach Ansicht des BayObLG nicht gekommen zu sein.

9. Okt 2023

Anmerkung von
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Dr. Christian Rathgeber, Mag. rer. publ., Krug Fröba Dominok Rathgeber Rechtsanwälte PartG mbB, Frankfurt a. M. 

Aus beck-fachdienst Strafrecht 20/2023 vom 05.10.2023

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Sachverhalt

Der Angeklagte (A) hatte drei Polizeibeamte anlässlich einer Polizeikontrolle in einer Alkoholverbotszone als „korrupte Beamte“ bezeichnet und gegen einen der Beamten einen Ellbogenstoß geführt. Gegen seine Verurteilung durch das LG wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und Beleidigung wendet sich A mittels der Revision.

Entscheidung

Das BayObLG verwirft die die Revision des A als unbegründet. Mit der Sachrüge zeige die Revision keinen den A belastenden Rechtsfehler auf.

Das Verhalten des A zum Nachteil des geschädigten Polizeibeamten E erfülle den Tatbestand des § 114 Abs. 1 StGB. Nach den – insoweit allein maßgeblichen – Urteilsfeststellungen habe der A versucht, sich aus dem Griff des Polizeibeamten, der beide Arme des A festgehalten habe, loszureißen und in einer Rotationsbewegung seinen rechten Ellbogen gegen die linke Brust des Beamten gestoßen. Er habe dabei den Beamten im Brustbereich getroffen und es sei ihm gelungen loszukommen. Unter dem Begriff des tätlichen Angriffs sei nach h. M. eine mit feindseligem Willen unmittelbar auf den Körper des Beamten zielende Einwirkung zu verstehen, und zwar unabhängig von ihrem Erfolg. Ziel der Handlung müsse zwar die Einwirkung auf den Körper des Vollstreckungsbeamten sein. Der Vorsatz müsse sich aber nicht auf eine Körperverletzung beziehen. Auch zu einer körperlichen Berührung brauche es nicht gekommen zu sein. Danach habe der A hier mit seinem Ellbogenstoß gegen den dienstlich tätigen Polizeibeamten einen Amtsträger, der zur Vollstreckung von Gesetzen berufen gewesen sei, bei einer rechtmäßigen Diensthandlung tätlich angegriffen. Darauf, ob der A bei seinem Widerstand ohne – direkten – Verletzungsvorsatz gehandelt habe, dass die Gewaltanwendung seiner Befreiung aus der Umklammerung gedient habe und dass der Beamte bei dem Ellbogenstoß nur geringfügige Schmerzen erlitten habe, komme es für die Verwirklichung des Tatbestands nicht an. Die feindliche Zielrichtung des Angriffs liege mit Blick auf den festgestellten Zweck des Verhaltens auf der Hand. Dass die Verurteilung nicht wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in zwei tateinheitlichen Fällen erfolgt sei, beschwere den A nicht.

A habe sich auch der Beleidigung gemäß § 185 StGB schuldig gemacht. Er habe die drei Polizeibeamten in einer Alkoholverbotszone anlässlich einer Polizeikontrolle aus der Situation heraus als „korrupte Beamte“ bezeichnet, um seine Missachtung der Ehre der Geschädigten kundzutun. Ein Video zeige den A, wie er sich den Beamten gegenüber in überheblicher und provozierender Gestik mit einer Flasche mit alkoholischem Inhalt in der Hand in Szene gesetzt habe. Der ersichtlich von Tatsachen losgelöste Vorwurf der Korruptheit ist geeignet, die Integrität und den Achtungsanspruch eines Beamten anzugreifen. Nach den Urteilsfeststellungen stelle die Formulierung eine dem Tatbestand des § 185 StGB unterfallende ehrverletzende Meinungsäußerung dar. Das Verhalten des A sei nicht nach § 193 StGB unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG gerechtfertigt. Zwar habe das LG, obwohl die Feststellungen keinen der von der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmefälle belegten, ohne weitere Begründung von einer wertenden Abwägung der betroffenen Rechtsgüter abgesehen. Der Senat könne eine vom Tatgericht rechtsfehlerhaft unterlassene Abwägung der Rechtsgüter der Meinungsfreiheit und des Ehrenschutzes nachholen und auf der Grundlage der Feststellungen des LG die gebotene wertende Gegenüberstellung der konkreten Umstände selbst vornehmen, da sich den Urteilsgründen die Situation und die Motivation des A hinreichend entnehmen ließen. Er sei zu der Entscheidung gelangt, dass im vorliegenden Fall dem Schutz der personalen Würde des einzelnen Polizeibeamten der Vorrang gegenüber der Meinungsfreiheit des A gebühre und dass der Schuldspruch wegen Beleidigung im Ergebnis zu Recht erfolgt sei. Der Senat habe bei der Abwägung berücksichtigt, dass die Äußerung spontan und in einer für den A unangenehmen Situation einer Polizeikontrolle erfolgt sei. Der Senat habe in seine Erwägungen mit eingestellt, dass das Recht des Bürgers, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf und sogar in polemischer Zuspitzung zu kritisieren, zum Kernbereich des Rechts auf freie Meinungsäußerung gehöre, weshalb deren Gewicht in diesen Fällen besonders hoch zu veranschlagen sei. Andererseits sei zu bedenken, dass auch die Gesichtspunkte der Machtkritik und des „Kampfs ums Recht“ in eine Abwägung eingebunden blieben und nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern erlaubten. Gegenüber einer auf die Person abzielenden Verächtlichmachung setze die Verfassung allen Personen gegenüber verfassungsrechtliche Grenzen und nehme hiervon auch Amtsträger nicht aus. Ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern liege im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken könne. Eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft könne nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagierten und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet sei. Im Rahmen dieser Abwägung falle besonders ins Gewicht, dass es sich bei dem von A verwendeten Ausdruck um einen strafrechtlich relevanten Vorwurf der Bestechlichkeit handele und die Beamten nach den Feststellungen durch ihr Verhalten während der Kontrolle keinen Anlass zu einer Eskalation gegeben hätten. Es sei auch zu bedenken, dass A die – rechtmäßige – Kontrolle selbst veranlasst habe, indem er die Flasche mit Alkohol provokativ in der Hand hielt und zur Schau stellte. Der Angriff gegen den Achtungsanspruch des betroffenen Beamten habe keinen Sachbezug aufgewiesen, sei nicht in einem vertraulichen Raum erfolgt und über eine auch überspitzte oder polemische Machtkritik in einem der Situation unangemessenen Maße hinausgegangen. Die Gewichtung dieser festgestellten Umstände ergebe, dass das Recht des A auf freie Meinungsäußerung hinter dem personalen Achtungsanspruch der Polizeibeamten zurücktrete und dem Schuldspruch keine rechtlichen Bedenken entgegenstünden. […]

Praxishinweis

Zwar geht die vorliegende Entscheidung auf das Konkurrenzverhältnis zwischen § 113 StGB und § 114 StGB nicht näher ein. Dass das Verhältnis zwischen einer Widerstandshandlung i.S.v. § 113 StGB und einem tätlichen Angriff i.S.v. § 114 StGB in der Praxis aber häufig schwierig sein kann, schimmert gleichwohl durch. Der Gesetzgeber hat im Zuge der mehrfachen Änderung der Tatbestände eine klare Regelung zur Konkurrenz versäumt (vgl. zur Vorgängerregelung bereits Rathgeber, KritV 2012, 314 ff.).

Die Frage, ob der strafbare „tätliche Angriff“ i.S.v. § 114 StGB einen Körperverletzungsvorsatz voraussetzt, wird von Teilen der Literatur deutlich differenzierter gesehen als vom BayObLG. So argumentiert Bosch, die Trennung von Verletzungs- und Gefährdungsvorsatz lasse offen, ob zumindest die Verletzungseignung vom Vorsatz des Täters umfasst sein müsse – noch wichtiger – ob insoweit auch subjektiv eine erhebliche Eignung erkannt worden sein müsse. Seiner Meinung nach müsse zwingend auch die Eignung, erhebliche Verletzungen zu verursachen, vom bedingten Vorsatz umfasst sein (MüKo-StGB/Bosch, StGB § 114 Rn. 9).

BayObLG, Beschluss vom 10.06.2023 - 203 StRR 204/23 (LG Regensburg), BeckRS 2023, 24303