NJW-Editorial

Nachdenken über Nichtbefassung

Bei den Obersten Gerichtshöfen – mit Ausnahme des BSG und der Strafsenate beim BGH – gehen die Fallzahlen zurück. Der Präsident des BFH bringt die Herabsetzung der Zugangsvoraussetzungen ins Spiel.

4. Sep 2025

Schauen wir uns die Statistik an. Sie ist beim BGH mustergültig bis 2006 abzurufen; BFH und BAG tun sich mit Altdaten etwas schwerer; BVerwG und BSG lasse ich außen vor, weil dort ein Federstrich des Gesetzgebers Gerichtssäle füllt oder leert. Beim BGH waren vor den 13 Zivilsenaten Ende 2024 anhängig 5.304 Verfahren (2006: 12 Senate 4.780 Verfahren); allerdings sind seine Daten für 2024 „dieselvernebelt“: 1.730 Dieselverfahren (33 % der Gesamtbelastung) werden von einem „14.“, dem Hilfssenat VIa., bewältigt – wie die Diesel ein Auslaufmodell; die verbleibenden 13 Zivilsenate erledigen also 3.574 Verfahren: 1.195 weniger als 2006. Der BFH gibt in seinem Jahresbericht die zum 31.12.​2024 anhängigen Verfahren mit 1.513 an; Ende 2004 – Internet hilft – waren es 3.029, also jetzt 1.516 weniger. Beim BAG blieben – nach seinem Jahresbericht – zum Jahresende 526 Verfahren unerledigt – gegenüber 2014 über 1.500; also seit 2014 ca. 1.000 weniger.

Diese Rückgänge legen einen Blick auf die Zugangsvoraussetzungen nahe. Sie sind – bezogen auf das bei weitem wichtigste Rechtsmittel der Revision – bei allen Obersten Gerichtshöfen des Bundes im Wesentlichen einheitlich geregelt: Ohne Zulassung durch die Vorinstanz ist dem Revisionsverfahren überall die Nichtzulassungsbeschwerde vorgeschaltet. Bei ihr prüfen sie, ob die Revisionszulassungsvoraussetzungen vorliegen. Sie befassen sich also nur mit der Frage, ob sie sich mit dem ihm jeweils angetragenen Fall befassen sollen. Diese Prüfung führt in der weit überwiegenden Zahl der Fälle zum Ergebnis der Nichtbefassung. Die Darlegung dieses Nichtbefassungsergebnisses kann sich über mehrere Seiten erstrecken (z.B. BGH NJW-RR 2019, 1202 (1203 –1205)). Entgegen einer früheren Vorstellung (BGH NJW 2003, 65 f.) wird die Gerichtsakte gelesen. Umsonst sind die Verfahren nicht zu haben. Die Rechtsuchenden wenden also erhebliche Mittel auf, um am Ende in ihrer Sache ungehört fortgeschickt zu werden. Das schreckt ab und, wie ich aus Rückmeldungen erfahre, verärgert.

Einer Zeit eines an zunehmend breiter werdenden Rändern der Gesellschaft populären „Eliten-Bashings“ ist dieses Verfahren nicht mehr gemäß. Sollte der Bundesgesetzgeber die Angehörigen seiner Obersten Gerichtshöfe nicht dazu anhalten, sich in erster Linie nicht mit sich selbst, sondern mit dem ihnen angetragenen Fall zu befassen? Mit § 614 S. 1 ZPO ist ein erster Schritt getan. Wie wäre es, wenn alle Streitigkeiten zwar kurz und knapp, aber sachlich verbeschieden und nur noch Verfahren mit Grundsatzbedeutung mündlich verhandelt werden? Nachdenken? Schadet nicht.

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Rechtsanwalt beim BGH Dr. Wendt Nassall, Karlsruhe.