Verwaltungsgerichte ohne Sozialrecht?

Droht die „Verlagerung von Kernmaterien der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu den Sozialgerichten“? So steht es in einer Anfang Juni verschickten Pressemitteilung, mit der die VGH- und OVG-Präsident(inn)en sowie der Präsident des BVerwG auf eine Ankündigung im Koalitionsvertrag (Zeilen 473–475) reagieren.

26. Jun 2025

Als Kernmaterien firmieren in der Pressemitteilung das Kinder- und Jugendhilferecht, das Wohngeldrecht, das BAföG und das Unterhaltsvorschussgesetz. Wie bitte? Nach den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts gehörten 2022 bundesweit von den durch die Verwaltungsgerichte erledigten Hauptsacheverfahren mehr als die Hälfte zum Asyl- und Ausländerrecht, während das Sozialrecht ziemlich genau bei 4 % lag. Angeblich, so die Pressemitteilung, beschäftigen sich die Sozialgerichte typischerweise mit der beitragsfinanzierten Sozialversicherung, nicht aber mit den hier in Rede stehenden steuerfinanzierten Materien. Die Statistik der Sozialgerichtsbarkeit für 2023 zeigt: Bei den Sozialgerichten liegt noch vor der gesetzlichen Krankenversicherung (ohne Kassenarztrecht) das SGB II („Bürgergeld“) vorn, das nicht zur Sozialversicherung gehört. ­Außerdem: Wer SGB II-Leistungen berechnen kann, wird problemlos mit WoGG, BAföG und Unterhaltsvorschussgesetz klarkommen, die übrigens zum Sozialgesetzbuch gehören (§ 68 SGB I). Die Pressemitteilung meint, für das Verbleiben des SGB VIII bei den Verwaltungsgerichten spreche, dass die Inobhutnahme von Minderjährigen eine „Gefahrenabwehrmaßnahme“ sei. Übersehen wird hierbei, dass das SGB VIII Kinder in ­erster Linie stärken soll, auch, aber nicht nur durch Schutz vor Gefahren. Mit dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht hat das, anders als die Pressemitteilung meint, wenig zu tun. Nicht nur hier fällt der Vorwurf, die geplante Reform sei „systemwidrig“, in sich zusammen.

Worum geht es wirklich? Die Verwaltungsgerichtsbarkeit sucht nach ihrer Identität. Sie befürchtet offenbar eine neuerliche „Entthronung“, die die Sozialgerichte als „besondere Verwaltungsgerichte“ (§ 1 SGG) zu den eigentlichen Verwaltungsgerichten macht, denn sie kontrollieren die Verwaltung des Sozialleistungsstaats, der fast allen Menschen zugutekommt. Der derzeitige Aufgabenzuschnitt der Verwaltungsgerichte wird angesichts des Fachkräftemangels nicht ohne Folgen für die Personalrekrutierung bleiben. Asylsachbearbeiter/in in Robe will nicht jede/r werden, zumal, wenn es andere, auch finanziell attraktive berufliche Optionen gibt. Also: Schluss mit justizinternen Abgrenzungskämpfen! Wichtiger ist es, für die Zusammenlegung der Sozial- und Verwaltungsgerichte – die integrierte, fachlich vielfältige Verwaltungsgerichtsbarkeit der Zukunft – einzutreten.

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Prof. Dr. Stephan Rixen ist Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität zu Köln.