NJW-Editorial

Vorliegend liegt ein Editorial vor
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Juristinnen und Juristen gelten gemeinhin nicht als Sprachkünstler. Sie bilden oft Bandwurmsätze, verwenden zu viele Passivkonstruktionen und zu viel Konjunktiv (dazu Gappa JuS 2024, 297). Auch das Verb ist ihnen fremd. So entstehen herrliche Substantivierungen wie „Geltendmachung“ (BGH ZIP 2025, 761, Ls.), gerne noch gesteigert zum „Geltendmachungsbeschluss“ (BGH NZG 2025, 117 [Ls. 1], für BGHZ vorgesehen). 

8. Mai 2025

Doch ein juristisches Unwort hat in den letzten 50 Jahren die steilste Karriere gemacht: „vorliegend“ als Adverb – gerne in jeden unmöglichen Zusammenhang eingestreut, insbesondere im Rahmen der Subsumtion unter eine zuvor abstrakt dargelegte Definition. 

Verzeichnet die Datenbank Juris für das Jahr 1975 nur 272 Treffer, sind es 2000 schon mehr als 9.500 und im letzten Jahr 2024 mehr als 20.000. Gewiss: Die Publikationsdichte hat zugenommen, doch ist der Trend klar erkennbar. Vor allem die höchsten Gerichte haben ihre frühere, sehr begründete Zurückhaltung aufgegeben (vgl. jüngst fünffach „vorliegend“ in BAG NZA 2025, 417 Rn. 18, 28, 29, 30, 35).

Solch juristische Moden bleiben nicht ohne Wirkung auf die Jurastudierenden. Fand sich das Wort vor 20 Jahren fast nie in Klausuren, war im letzten Durchgang des 1. Staatsexamens mein aus ganz Baden-Württemberg stammender Klausurstapel vom „vorliegend“ durchseucht. Der Rekord lag bei 29-facher Verwendung auf 23 Seiten. Hier ein paar Originalzitate als Kostprobe: „Die K gab der N vorliegend 4 Eier.“ – Hoffentlich lag sie nicht auf den Eiern, sonst wäre es nur noch Rührei. „Vorliegend waren S und N sich einig.“ – Man sieht die Vertragsparteien förmlich voreinander liegend. „Vorliegend ging X auf die Toilette.“ – Hoffentlich konnte sie vor dem Klo liegend ihr Geschäft überhaupt verrichten. „Vorliegend ist S die Leistende.“ – Lag S wohl vor dem Tresen des Geschäftslokals? Hübsch sind auch Doppelungen wie: „Fraglich ist, welches Recht vorliegend anwendbar ist, da ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt.“ Oder: „Vorliegend könnte eine Eigentumsverletzung vorliegen.“ – Das ist sprachlicher Unfug, selbst wenn eine „Verletzung“ tatsächlich „vorliegen“ könnte.

Als Adjektiv mag das Wort noch allgemeine Verwendung finden, wenn etwa die „vorliegende Akte“ oder der „vorliegende Bebauungsplan“ erwähnt wird. Doch auch insoweit ist Vorsicht geboten. So spricht das BVerfG vom „vorliegenden Beschwerdeführer“ (BVerfG NZG 2025, 417 Rn. 20), und man fragt sich besorgt: Liegt er wohl vor dem Gericht in Karlsruhe?

In der adverbialen Variante „vorliegend“ handelt es sich hingegen stets um unschönes Juristendeutsch, und man mag jenem Wort eigentlich nur ein jähes Ende seiner steilen Karriere wünschen.

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Prof. Dr. Georg Bitter ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Bank- und Kapitalmarktrecht, Insolvenzrecht an der Universität Mannheim.