NJW-Editorial

Effizienz über alles?
NJW-Editorial

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD gibt sich investitions- und bürgernah. Zur Verkürzung der Verfahrensdauer sollen – offenbar in allen Verfahrensordnungen – der Zugang zur zweiten Tatsacheninstanz begrenzt sowie weitere richterliche Befugnisse zur Verfahrensstraffung und -strukturierung geschaffen werden.

 

2. Mai 2025

Cloud-Plattformen sollen die Papierakten ersetzen und digitale Beweismittel verarbeitet werden können. Verwaltungsgerichte sollen vermehrt durch Einzelrichter entscheiden und sich „unter Beibehaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes künftig stärker auf den vorgebrachten Parteivortrag und auf eine Rechtmäßigkeitsprüfung konzentrieren“.

Ambitionen, die Fragen aufwerfen. Sollen, was zu begrüßen wäre, richterliche Hinweise vor einer mündlichen Verhandlung zur Regel gemacht werden? Oder geht es um Vorgaben zum tatsächlichen und rechtlichen Parteivortrag und damit um eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs? Und taugt das verwaltungsgerichtliche Zulassungsverfahren mit seinen langwierigen und zum Teil sachfremden Zwischenschritten ernsthaft als Vorbild für andere Verfahrensordnungen? Wer Verfahren wirklich optimieren und den Rechtsschutz straffen möchte, sollte Gerichten erlauben, die materielle Rechtmäßigkeit von Ansprüchen und Verwaltungshandeln zu prüfen, statt sie mit immer neuen und hypertrophen Zulässigkeitsanforderungen zu überfrachten.

Dies gilt auch für das Verhältnis von Amtsermittlung und Parteivortrag. Es ist richtig, dass etwa das europäische Verfahrensrecht – ohne damit den effektiven Rechtsschutz zu beschneiden – eine strikte Präklusion für den Parteivortrag vorsieht und den Gerichten verbietet, Klagegründe eigenständig zu erfinden. Übertragen auf die erstinstanzliche Rechtmäßigkeitskontrolle in Deutschland lässt sich dies allerdings kaum: Während vor den Unionsgerichten Anwaltszwang herrscht und Amtsermittlungen selten sind, stehen hierzulande der uneingeschränkte Zugang des Bürgers zur ersten Instanz sowie die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung außer Streit. Und das ist auch gut so. Verfahrensverzögerungen ergeben sich in der Praxis nicht aufgrund von Amtsermittlungen oder gar mangelnder Einzelrichterentscheidungen, sondern aufgrund von Erkrankungen, Versetzungen, Elternurlauben und ähnlichen Faktoren, denen mit neuerlichen Änderungen des Verfahrensrechts nicht beizukommen ist. Entscheidend für die Effektivität des Verfahrens ist und bleibt das Selbstverständnis der Dritten Gewalt – einschließlich der Anwaltschaft – , die sich ihrer Aufgabe, Konflikte zu befrieden, in jeder Phase eines Verfahrens bewusst werden sollte. Dazu gehört es, die Streitenden mit ihren tatsächlichen Nöten und Interessen auch dann ernst zu nehmen, wenn sie voraussichtlich unterliegen, statt sich in immer abstrakteren Rechtsfragen zu verheddern.

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Rechtsanwalt Dr. Ulrich Karpenstein ist Partner bei Redeker Sellner Dahs und Mitherausgeber der NJW.