NJW-Editorial

Rückkehr richterlicher Zurückhaltung
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„Alt-Bundestag I–X“: Mit zehn Beschlüssen binnen vier Tagen erteilte das BVerfG den Versuchen, die Sondersitzungen des 20. Deutschen Bundestags am 13. und 18.3.​2025 zu verhindern, eine klare Absage. Auf der Tagesordnung stand nicht weniger als die Änderung des Grundgesetzes mit dem Ziel, den finanziellen Handlungsspielraum des neugewählten 21. Bundestags auf den buchstäblich letzten Metern doch noch zu erweitern – was der bisherigen Regierung verweigert worden war und wofür es im 21. Bundestag wohl keine notwendige Mehrheit gegeben hätte. 

27. Mrz 2025

Es nimmt nicht wunder, dass diese Vorgehensweise verfassungsrechtliche Störgefühle hervorrufen kann.

Störgefühle begründen noch lange keinen Verfassungsverstoß, wie der Zweite Senat knapp, aber hinreichend normativ begründet: Die Wahlperiode des alten Bundestags werde gemäß Art. 39 I 2 GG erst durch den Zusammentritt des neuen Bundestags beendet. Bis dahin sei der alte in seinen Handlungsmöglichkeiten nicht beschränkt. Wann der Zusammentritt erfolgt, entscheide allein der neue Bundestag. Dabei übe die Präsidentin des alten treuhänderisch das Selbstversammlungsrecht des neugewählten Bundestags aus. Letzterem stehe es jedoch frei, auch auf anderem Wege zusammenzutreten. Zur Frage, wie eine anderweitige Möglichkeit konkret ausgestaltet sein soll, verhält sich der Senat ebenso wenig wie die mit „vgl.“ angeführte Literatur (Alt-Bundestag I, BeckRS 2025, 4073 Rn. 13). Auch ob der Konstituierung des neuen Bundestags der Vorzug zu geben wäre, lässt der Senat offen. Eine solche Pflicht bestünde allenfalls, wenn der neue Bundestag den Willen zum Zusammentritt gebildet und sich dafür auf einen Termin verständigt hätte. Daran fehle es hier. Der neue Bundestag lässt also selbst die Einberufung des alten zu. Auch mit Blick auf die erforderlichen Mehrheiten zu einer solchen Willensbildung hält sich der Senat vornehm zurück – fehlte es doch schon an einem Antrag eines Drittels der Abgeordneten. Soweit sich die Anträge unter Berufung auf den umstrittenen – seinerzeit mit 5:2 Stimmen ergangenen – sogenannten Heilmann-Beschluss (NJW 2023, 2561) gegen die Kurzfristigkeit der anberaumten Sitzungen richteten, erinnert der Senat in der Folgenabwägung an das Primat der „Verfahrensautonomie des Bundestages“ (Alt-Bundestag IV, BeckRS 2025, 4075 Rn. 11): Der Eingriff darin wöge besonders schwer, weil die geplante Beschlussfassung wegen des Grundsatzes der Diskontinuität endgültig unmöglich würde.

Aus nachvollziehbaren Gründen scheint sich der Senat mit alldem auf den einst von ihm selbst betonten Grundsatz des „judicial self-restraint“ (NJW 1973, 1539) zurückzubesinnen, um den anderen Verfassungsorganen den ihnen garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten. Manches Mal, wie zuletzt zum Gebäudeenergie- und beim Nachtragshaushaltsgesetz, hätte sich die Ampelkoalition eine solche Zurückhaltung durchaus gewünscht; Schwarz-Rot hat nun grünes Licht bekommen. 

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Rechtsanwältin Dr. Roya Sangi, M. A., ist Partnerin bei Redeker Sellner Dahs, Berlin.