NJW-Editorial
Alles auf Anfang
NJW-Editorial

Mit dem vorzeitigen Ende der Legislaturperiode steht die Kriminalpolitik wieder am Anfang. Wohin soll die Reise gehen? Im 300. Geburtsjahr Immanuel Kants ist die Antwort klar: Hin zu einer vernunftgeleiteten, realitätsnahen Gesetzgebung, die vor allem die richtigen Prioritäten setzt.

21. Nov 2024

Das Wichtigste ist die Fokussierung der knappen Ressourcen auf die Lösung wirklich wichtiger Aufgaben. Ein Kern des Rechtsstaats: Bei allen Formen schwerer Kriminalität müssen Ermittlungs- und Strafverfahren mit modernen Mitteln zeitnah gerechte Urteile unter Wahrung der Beteiligtenrechte ermöglichen. Das betrifft vor allem effektive Ermittlungen im digitalen Raum. Unglaublich viele schwere Straftaten sind durch die Entschlüsselung der EncroChat-Kommunikation aufgedeckt worden. Hinweise auf sexuellen Missbrauch von Kindern oder die Verabredung von Tötungsdelikten stammen nicht selten aus dem Ausland, wo entsprechende Plattformen durchkämmt werden. „Datenschutz ist kein Tatenschutz“ (BAG NJW 2023, 3113 Rn. 32). „Quick-Freeze“ schöpft jedenfalls die rechtlichen Möglichkeiten der EuGH-Rechtsprechung nicht aus.

Alle Formen der Bagatellkriminalität gehören dagegen auf den Prüfstand. Wer es immer noch sinnvoll findet, Gefängnisse mit Schwarzfahrern zu füllen, muss sich fragen lassen, ob diese Ressourcen nicht besser für die Bekämpfung gravierender Wirtschaftskriminalität eingesetzt werden sollten. Auch Entkriminalisieren muss aber gekonnt sein, um der Justiz damit nicht (wie beim Konsumcannabisgesetz) unnötige Mehrarbeit zu bescheren. Mehr Pragmatismus heißt die Devise. Das betrifft auch das Einziehungsrecht. Natürlich sollen Straftäter von ihren Taten nicht profitieren. Wie viel justizielle Mühe aber das Produzieren sinnloser Vollstreckungstitel gegen ersichtlich Vermögenslose macht, sollte nachdenklich stimmen.

Die personellen Ressourcen der Justiz schwinden, Straftatbestände und Anzeigepflichten wachsen. Wie gut gemeinte Kriminalpolitik zu einer dysfunktionalen Praxis führen kann, lässt sich im Bereich Geldwäsche täglich erleben. Ergebnis: Verunsicherte Anzeigepflichtige, frustrierte Ermittler, überlastete Staatsanwaltschaften und Gerichte, die Verfolgung wirklich wichtiger Taten bleibt auf der Strecke. Kriminalpolitik sollte realistisch bleiben und das Machbare im Blick behalten.

Das Prozessrecht muss dabei auch seinen Beitrag leisten. Wie will man eigentlich mit einer nie grundlegend, sondern immer nur punktuell reformierten StPO von 1877 die heutigen Probleme meistern? Die Zeit ist reif für einen großen Wurf, der die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung und von KI, die Wahrung der Beteiligtenrechte und die Möglichkeiten effektiver Prozessführung in ein modernes, pragmatisches Prozessrecht gießt – gerne auch mit einer zeitgemäßen Dokumentation der Hauptverhandlung. 

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Prof. Dr. Andreas Mosbacher ist Richter am BGH, Leipzig.