NJW-Editorial
Entlastung durch Leitentscheidung?

Die Überlastung der deutschen Ziviljustiz, insbesondere bei massenhaft auftretenden Schäden, ist seit geraumer Zeit in aller Munde, zuletzt auf dem diesjährigen Deutschen Juristentag in Stuttgart. Um die Belastung zu reduzieren, hat der Gesetzgeber nahezu zeitgleich zwei Gesetze auf den Weg gebracht: Die Neufassung des Gesetzes über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (KapMuG) und das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof.

17. Okt 2024

Während das neue KapMuG Gefahr läuft, sein Ziel zu verfehlen, da dieses das seit 2005 grundlegende Prinzip der zwingenden Vorgreiflichkeit des Musterverfahrens für sämtliche Einzelverfahren über Bord wirft (siehe nunmehr § 10 II KapMuG), scheint der Gesetzgeber mit dem Leitentscheidungsverfahren auf dem richtigen Weg zu sein. Auch außerhalb kollektiver Rechtsdurchsetzungsinstrumente (neben dem KapMuG insbesondere die Musterfeststellungsklage) könnte das Gesetz zur Einführung des neuen Verfahrens eine jedenfalls faktische Entlastung der deutschen Zivilgerichte bewirken.

In allen Themenkomplexen, bei denen das massenhafte Einklagen von gleichgelagerten Ansprüchen im Wege einzelner Verfahren üblich ist (etwa im sogenannten Diesel-Skandal, wegen unzulässiger Klauseln in Fitnessstudio-, Versicherungs- oder Bankverträgen und/oder bei kapitalanlagerechtlichen Massenschäden), soll das neue Gesetz sicherstellen, dass das richtungsweisende Case Law des BGH schneller zum Zuge kommt. Dieser hat es künftig in der Hand, jede eingelegte Revision zu einem Leitentscheidungsverfahren zu machen. Dies führt dazu, dass prozesstaktische Manöver der Parteien, wie etwa Rücknahme der Revision, Anerkenntnis oder Vergleich, um eine unliebsame Begründung einer Entscheidung des BGH zu vermeiden, künftig der Vergangenheit angehören werden.

Ob die gesetzliche Regelung tatsächlich die Arbeitsbelastung der Zivilgerichte relevant reduziert, wird sich zeigen. Dagegen spricht, dass es in den Tatsacheninstanzen keine Aussetzung derjenigen Verfahren von Amts wegen geben wird, deren Entscheidung von der Leitentscheidung des BGH abhängt; es bleibt zudem beim langatmigen Durchlaufen des Instanzenzugs. Eine echte Entlastung auch der Tatsachengerichte hätte demgegenüber die vom Deutschen Richterbund geforderte Variante des Vorabentscheidungsverfahrens mit sich gebracht. Dieses hätte den Tatsacheninstanzen ermöglicht, dem BGH schnellstmöglich ein Verfahren zur Vorab- bzw. Leitentscheidung vorzulegen, wenn dieses von höchstrichterlich ungeklärten Rechtsfragen abhängt, die für eine Vielzahl gleichartiger weiterer Rechtsstreite entscheidungserheblich sind. Zu einer derart weitreichenden Änderung der deutschen Zivilprozessordnung konnte sich der Gesetzgeber aber (noch) nicht durchringen.

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Dr. Michael Zoller ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht in München.