Urteilsanalyse
Divergenzvorlage des OLG Düsseldorf an den BGH zu den Anforderungen an die Vertretungsvollmacht
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Der BGH soll entscheiden: Genügt eine Vertretungsvollmacht, durch die dem Verteidiger Vollmacht zur Vertretung, auch im Fall der Abwesenheit des Angeklagten, in allen Instanzen – ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung – erteilt worden ist, den Anforderungen der in § 329 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO vorausgesetzten Vertretungsvollmacht?

8. Okt 2021

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Dr. Nicolas Böhm, Ignor & Partner GbR, Berlin 

Aus beck-fachdienst Strafrecht 20/2021 vom 07.10.2021

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Sachverhalt

Das AG hat A am 30.6.2020 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Mit Schriftsatz vom 3.7.2020 hat sich V als Verteidiger für A bestellt und Berufung gegen das Urteil eingelegt. Zugleich hat V die von A unterzeichnete Strafprozessvollmacht vom 3.7.2020 vorgelegt, die dahin lautete, dass V „Vollmacht zur Verteidigung und Vertretung, auch im Falle meiner Abwesenheit, in allen Instanzen erteilt“ wird. In der Berufungshauptverhandlung erschien der durch öffentliche Zustellung geladene A nicht. V war unter Berufung auf die Vollmacht bereit, zur Sache zu verhandeln. Das LG hat die Berufung ohne Verhandlung zur Sache gem. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen, weil die Vollmacht nicht ausdrücklich auf die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung Bezug nahm. Hiergegen richtet sich die Revision des A, mit der er geltend macht, dass in Ansehung der nachgewiesenen Vertretungsvollmacht eine Verhandlung zur Sache hätte stattfinden müssen.

Entscheidung

Das OLG Düsseldorf führt aus, dass es der Revision stattgeben möchte, sich darin aber durch einen Beschluss des OLG Hamm vom 24.11.2016 (5 RVs 82/16) gehindert sieht. Gegenstand dieser Entscheidung - so das OLG - sei eine inhaltsgleiche Vertretungsvollmacht gewesen mit dem Formulartext: „Die Vollmacht erstreckt sich auf meine Verteidigung und Vertretung in allen Instanzen sowie im Vorverfahren – ebenfalls für den Fall meiner Abwesenheit in einer Verhandlung …“. Das OLG Hamm habe dies für unzureichend erachtet und verlang, die Vollmacht müsse auch die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung erfassen. Das OLG Düsseldorf teile diese Auffassung nicht und rufe daher den BGH an.

Die Möglichkeit der Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung sei - so das OLG weiter - im Berufungsverfahren, im Strafbefehlsverfahren, im Privatklageverfahren, im Einziehungsverfahren, im Revisionsverfahren und nach Maßgabe des § 234 StPO vorgesehen. Eine ohne Einschränkung für alle Instanzen erteilte besondere Vollmacht decke die Vertretung des abwesenden Angeklagten in diesen Fällen ab. Auch stelle es keine Besonderheit der Berufungshauptverhandlung dar, dass die Vertretung weitreichende Folgen für den Angeklagten haben könne oder es sich um die letzte Tatsacheninstanz handele. Denn ein nach § 234 StPO zulässiger Vertretungsfall könne auch in der Hauptverhandlung vor einer großen Strafkammer des LG (erste und letzte Tatsacheninstanz) eintreten. Zudem sei schon vor der Änderung des § 329 StPO anerkannt gewesen, dass die im Strafbefehlsverfahren normierte Vertretungsbefugnis gem. § 411 Abs. 2 StPO auch für die Berufungshauptverhandlung gelte. Es erscheine nicht folgerichtig, für die Vertretung in der Berufungshaupthandlung eine ausdrücklich hierauf bezogene Vollmacht zu verlangen. Ob das gerichtliche Verfahren mit einem Strafbefehl oder einer Anklage begonnen habe, stelle kein taugliches Abgrenzungskriterium dar. Eine Vollmacht, durch die der Verteidiger zur Vertretung, auch im Falle der Abwesenheit des Angeklagten, „in allen Instanzen“ bevollmächtigt worden ist, sei für die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung daher ausreichend. Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte stünden dem nicht entgegen, soweit sie Vollmachten betroffen hätten, die Vertretungsfälle nach §§ 411 Abs. 2, 233 Abs. 1, 234 StPO, aber nicht nach § 329 Abs. 1, 2 StPO explizit anführten. Denn Insoweit bedürfe es – anders als hier – im Einzelfall der Auslegung, ob es sich um eine abschließende Aufzählung oder um Beispiele für die Vertretung „in allen Instanzen“ handele.

Praxishinweis

Bekanntlich ist der Verteidiger ein mit eigenen Rechten ausgestatteter Beistand des Beschuldigten (vgl. § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO) und nicht sein (weisungsabhängiger) Vertreter (so schon BGH, NJW 1956, 1727, 1728; anders freilich die Anhänger der Interessentheorie, s. hierzu sowie zu einem neuen Verständnis von Strafverteidigung, Böhm, Effektive Strafverteidigung und Vertrauen, S. 118 ff.). Eine Vertretung durch den Verteidiger kommt allerdings dann in Betracht, wenn der Beschuldigte sich seiner Pflicht, dem Strafverfahren zu stellen, ohne genügende Entschuldigung entzieht. Dies trifft mittlerweile auch auf die Berufungshauptverhandlung zu.

Nach einer Entscheidung des EMGR aus dem Jahr 2012 (Rechtssache Neziraj, NStZ 2013, 350) sah sich der Gesetzgeber zur Reform des § 329 StPO gezwungen, die er 2015 in der Weise vornahm, dass nunmehr zur Sache verhandelt werden muss, wenn der abwesende Beschuldigte durch einen Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht vertreten wird.

Über den notwendigen Inhalt der Vertretungsvollmacht herrscht indes, insb. unter den Oberlandesgerichten, Streit (vgl. auch Spitzer, NStZ 2021, 327). Während beispielswiese das OLG Celle (BeckRS 2021, 626) jüngst die Formulierung: „Vertretung und Verteidigung in Strafsachen und Bußgeldsachen (§§ 302, 374 StPO, 73, 43 OWiG) einschließlich der Vorverfahren sowie (für den Fall der Abwesenheit) Vertretung nach § 411 Abs. 2 StPO und mit ausdrücklicher Ermächtigung auch nach § 233 Abs. 1, 234 StPO und Stellung von Straf- und anderen nach der Strafprozessordnung zulässigen Anträgen“ als unzureichend angesehen hat, ließ etwa das OLG Oldenburg die Textformel: „Den Rechtsanwälten wird Prozessvollmacht gemäß §§ 81 ff. ZPO und §§ 302, 374 StPO erteilt wegen (…) Diese Vollmacht erstreckt sich insbesondere auf: 1. Verteidigung und Vertretung in Bußgeldsachen sowie Strafsachen in allen Instanzen, auch als Nebenkläger, Vertretung gem. § 411 Abs. 1 StPO mit ausdrücklicher Ermächtigung gem. § 233 Abs. 1 StPO“ zum Nachweis einer Vertretungsvollmacht genügen. Auch das OLG Düsseldorf beabsichtigt, die Wirksamkeit einer Vertretungsvollmacht im Falle der Berufungshauptverhandlung nicht von einer ausdrücklichen Hervorhebung der Norm o.ä. abhängig zu machen. Dafür spricht – neben den vom Gericht zutreffend ins Feld geführten Argumenten – vor allem, dass im Rahmen von § 234 StPO die Wendung „zu verteidigen und zu vertreten“ nach einhelliger Ansicht den Anforderungen an eine Vertretungsvollmacht genügt (BGH, aaO). Ein sachlicher Grund, weshalb für die Berufungshauptverhandlung davon abgerückt werden sollte, ist nicht ersichtlich, zumal der Gesetzgeber bei der Reform des § 329 StPO explizit auf § 234 StPO Bezug genommen hat (s. Franzke, StV 2019, 363, 365 f.).

Insofern bleibt zu hoffen, dass der BGH für Rechtssicherheit sorgt und klarstellt, dass seine Rspr. zu § 234 StPO für jeden strafprozessual zulässigen Vertretungsfall gilt. Dies tut auch deshalb not, weil sowohl die in praxi mannigfach verwendeten Formularvorlagen gewerblicher Anbieter als auch eine Vielzahl der in einschlägiger Literatur abgedruckten Mustertexte den Anforderungen einiger Oberlandesgerichte nicht gerecht werden. Insoweit ist den Anwältinnen und Anwälten anzuraten, bis zu einer Entscheidung des BGH kein (Haftungs-)Risiko einzugehen, und sich für alle zulässigen Vertretungskonstellationen explizit bevollmächtigen zu lassen. Dies gilt gleichermaßen für den Pflichtverteidiger, dessen besondere Vertretungsvollmacht sich weder sub specie § 234 StPO (KK-StPO/Gmel § 234 Rn. 4) noch im Rahmen des § 329 StPO (BayObLG BeckRS 2020, 28882) allein aus der Beiordnung ergibt.

OLG Düsseldorf, Beschluss vom 08.09.2021 - III-2 RVs 60/21 (LG Duisburg), BeckRS 2021, 25913