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Disclaimer in der Literatur
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Dmitry/Adobe Stock

Anfangs eines vielbeplauderten Buches (welches, steht dechiffriert am Ende, nicht spicken!) tönt ein Disclaimer, wonach die Geschichte fiktiv und nicht real sei. Schlüsselromane sind nicht per se verboten. Kann aber so ein Vorspruch den Autor vor Ansprüchen von mutmaßlichen Protagonisten schützen, die sich rechtswidrig beschrieben finden?

12. Mai 2023

Der betreffende Disclaimer scheint von realen abweichenden Meinungen in zwei BVerfG-Entscheidungen zu Klaus Manns Mephisto und Maxim Billers Esra inspiriert zu sein. Er ist ein zeitgenössischer Disclaimer, der keinen Anspruch erhebt, alle einschlägigen Rechtsgebiete zu tangieren und ihr Fachvokabular authentisch wiederzugeben. Vielmehr hat der Disclaimende (der Vorspruchklopfer?) folgenden völlig eigenständigen neuen Disclaimer geschaffen (und damit Gelegenheit, das Disclaimerrecht zu präzisieren): „Dieser Roman ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte. Daher erhebt der Roman keinen Anspruch, Geschehnisse und Personen und ihre beruflichen und privaten Handlungen authentisch wiederzugeben. Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen.“

Die Anspielung auf eine Zeitung, von der Hans Magnus Enzensberger meinte: „Schwankend zwischen Verdrängung und angewiderter Anerkennung haben wir mit [ihr] zu leben gelernt wie mit der Bombe“, verstehen alle. Warum zitiere ich Enzensberger? Weil ich nicht Max Goldt dazu zitieren möchte.

Alte Sondervoten beim BVerfG neu gelesen

Aber reicht es, einen „Dißklehmer“, wie das Wort weithin ausgesprochen wird, vor den Text anzubacken, um einem Verbot nach Urheber-, Äußerungs-, und Persönlichkeitsrecht oder einer bissigen Verschwiegenheitsvereinbarung zu entgehen? Ist das der Deckel, womit alles von der Kunstfreiheit gedeckt ist? Weckt der ­Autor hiermit nicht erst schlafende Leser, die finden: Wer Disclaimer als Schutzschirm benötige, befürchte wohl, dass der Text gerade nicht als Fiktion verstanden werde? Romanen haben Disclaimer vorm BVerfG bisher nicht geholfen (s. BVerfG, NJW 1971, 1645 – Mephisto; NJW 2008, 39 – Esra). Die unterlegenen Argumente sind aber lesenswert.

So schrieb Hoffmann-Riem: „Zur Verdeutlichung, dass der Leser nicht von der Faktizität (intersubjektiven Beweisbarkeit) des Erzählten ausgehen soll (…) kann es beitragen, wenn der Autor (…) einen entsprechenden „disclaimer“ formuliert. Diesem kommt eigenständige Bedeutung zu, wenn sein Inhalt eine Entsprechung in dem Roman selbst hat, er also nicht als Falschdeklaration erscheint. Handelt es sich aber um eine Falsch­deklaration, löst der Autor also den durch die Wahl der Form des Romans gestellten eigenen Anspruch einer künstlerischen Bearbeitung nicht ein, kommt ihm die Kunstfreiheit als Schutz nicht zugute. Dabei ist es aller­dings unglücklich, dass die Mehrheit für das Gegenstück zum Kunstwerk den Begriff der „Schmähung“ benutzt. [D]er Begriff der „Schmähkritik“ [ist] ein terminus technicus, der (…) Fälle erfasst, in denen die Wertung (…) jeglicher Grundlage entbehrt und auf persönliche Diffamierung abzielt. Geht es aber (…) um die Frage, ob eine Schilderung als intersubjektiv nachvollziehbare Beschreibung tatsächlichen Geschehens oder als Fiktionales oder als kunstspezifische Konstruktion von Realität einzuordnen ist, taugen solche Kategorien nicht oder jedenfalls nur als grobe Indizien“ (Rn. 151).

Kunstspezifische Eigenständigkeit

Zuvor Stein: Im „Vorspruch wird der Leser auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Romans und seine Entstehungsgeschichte, auf das künstlerische Anliegen des Autors und auf das spezifische Verhältnis der Romanfigur (…) zur Realität deutlich hingewiesen. Dieses Vorwort ist geeignet, auf die objektivierende Wirkung, die von der künstlerischen Darstellung im Roman ausgeht, aufmerksam zu machen und sie zu unterstreichen. Es gibt in knapper, aber eindrucksvoller Formulierung dem Anliegen des Autors [deutlich] Ausdruck (…). Die Veröffentlichung des Romans von einer umfassenden Aufklärung auch derjenigen Leserschicht abhängig zu machen, die trotz eines solchen Vorspruchs nicht bereit oder fähig ist, die vorhandene kunstspezifische Eigenständigkeit des Romans anzuerkennen, würde die [Kunstfreiheit] in unzulässiger Weise einschränken“ (NJW 1971, 1652).

Wer den Roman „Noch Wach?“ von Benjamin von Stuck­rad-Barre liest (und lesen bildet doch?), möge währenddessen an diese Sondervoten gelegentlich denken.

Rechtsanwalt Tom Braegelmann, LL.M., Attorney and Counsellor​at Law (New York), ist Of Counsel bei Annerton, Berlin.