Kolumne
Digitales Überholmanöver
Kolumne

Es ist mal wieder Zeit, an dieser Stelle über die Digitalisierung der Rechtspflege zu schreiben. Das Thema hat gerade Hochkonjunktur. Und dabei zeigt sich, wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinanderliegen.

25. Feb 2021

Der Anspruch: Gerade macht das Diskussionspapier einer Richterarbeitsgruppe zur Modernisierung des Zivilprozesses Furore. Darin werden auf 126 Seiten sehr weitgehende, mitunter wirklich bemerkenswerte Vorschläge gemacht. So viel Innovationsdrang hätte man in den Gerichten gar nicht vermutet. Zusätzlich zur Veröffentlichung des Dokuments fand Anfang des Monats noch ein virtueller Zivilrichtertag statt, der vom OLG Nürnberg sehr professionell durchgeführt wurde – auch technisch. Das zeigt: Die Justiz kann Digitalisierung.

Zu den vielen Vorschlägen gehören unter anderem: Die Einführung eines Bürgerportals, das die Rechtsuchenden nicht nur informiert, sondern über das mit der Justiz interagiert werden kann; die Kommunikation über einen elektronischen Nachrichtenraum nach dem Vorbild der Messenger-Dienste; beschleunigte Online-Verfahren; strukturierter Parteivortrag in Form einer Relationstabelle. Die Arbeitsgruppe geht sogar so weit, das Fax abschaffen zu wollen. Eine größere Revolution in der Rechtspflege ist eigentlich gar nicht vorstellbar.

Die Wirklichkeit sieht allerdings so aus: Der elektronische Rechtsverkehr kommt seit vielen Jahren nur in kleinen Schritten voran. Bis die digitale Kommunikation mit Anwälten und Bürgern sowie die E-Akte überall eingeführt sind, wird es noch bis 2026 dauern. Bei der rasanten digitalen Entwicklung ist das eine halbe Ewigkeit. Hinzu kommt: Wenn man es rein technisch betrachtet, ist der elektronische Rechtsverkehr kein sehr ambitioniertes Projekt. Letztlich überträgt er einfach das Analoge ins Digitale – obwohl technisch natürlich viel mehr möglich wäre.
Und was technisch und rechtlich schon möglich ist, wie etwa die Videoverhandlungen nach § 128a ZPO, scheitert in der Praxis entweder an der notwendigen Hard- und Software oder an der Bereitschaft der Beteiligten (Anwälte eingeschlossen). Zur Realität gehört nämlich auch: Viele Juristen sehnen den Fortschritt nicht gerade sehnlich herbei. Die ersten Reaktionen aus der Politik auf die Vorschläge der Arbeitsgruppe sind sehr positiv. Es klingt so, als könnte es jetzt gar nicht schnell genug gehen. Der bayerische Justizminister will „aufs Tempo drücken“, das Bundesjustizministerium will aus einzelnen Vorschlägen „Schnellboote“ machen. Beflügelt hiervon glaubt die Arbeitsgruppe an eine Umsetzung schon in der nächsten Legislaturperiode.

Dann entstünde allerdings folgende Verkehrslage: Beim elektronischen Rechtsverkehr fährt die Justiz weiter Schritttempo. Zeitgleich rauscht sie mit den aktuellen Reformvorschlägen auf der digitalen Überholspur an sich selbst vorbei – mit Fahrern und einem Fuhrpark, die auf eine solche Geschwindigkeit nicht gut vorbereitet sind. Hoffentlich gelingt das unfallfrei. Manches, etwa die E-Akte in ihrer jetzigen Modellierung und der strukturierte Parteivortrag in der Konzeption der Arbeitsgruppe, könnte miteinander kollidieren. •

Tobias Freudenberg ist Rechtsanwalt und Schriftleiter der NJW, Frankfurt a. M..