NJW-Editorial
Digitale Welt
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Generalthema des diesjährigen Anwaltstags ist die „Digitale Welt“. Anlass für die Themenwahl war, so der Deutsche Anwaltverein, dass die fortschreitende Digitalisierung das gesamte anwaltliche Tätigkeitsspektrum betreffen wird. Vielleicht war ein Motiv aber auch, das zu adressieren, was Psychologen als „Digitalisation Anxiety“ bezeichnen – Unbehagen angesichts des Aufkommens neuer Technologien und ihrer Integration zum Beispiel in das persönliche Arbeitsumfeld.

29. Mai 2024

Kein Zweifel: Für den Rechtsdienstleistungsmarkt bietet die Digitalisierung vor allem Chancen, findet sie doch zu einer Zeit statt, in der zwei sich prima facie unvereinbare Befunde gegenüberstehen. Hier ein Rechtsdienstleistungsmarkt, auf dem die jährlichen Umsätze seit 2017 um fast 20 % auf mehr als 23 Mrd. Euro gewachsen sind. Dort ein Anwaltsstand, der im selben Zeitraum bundesweit 10 %, in einzelnen Kammerbezirken freilich bereits mehr als 20 % seiner in Kanzlei niedergelassenen Berufsträger verloren hat. Immer mehr Geschäft für immer weniger Anwälte also – in den nächsten zehn ­Jahren wird diese Schere kontinuierlich weiter auseinander gehen. Es liegt auf der Hand, dass in einem Markt mit wachsender Nachfrage Digitalisierung in Kanzleien überlebensnotwendig werden wird, um den zunehmenden Mangel an anwaltlichem (und nicht-­anwaltlichem) Personal zu kompensieren – aber auch, um im Wettbewerb mit alter­nativen Rechtsdienstleistern zu bestehen. Denn die Umsätze dieser Wettbewerber, die häufig digitale Pioniere sind, sind in den letzten Jahren um rund 50% stärker gewachsen als die der Anwaltschaft.

Gleichwohl: Bei aller Begeisterung für die Möglichkeiten und Chancen, die die Digitalisierung in Anwaltschaft und Justiz bietet, gilt es, nicht die aus dem Blick zu verlieren, um die es eigentlich geht – Mandanten bzw. Parteien. Die schlichte Formel, dass für diese nicht schlecht sein kann, was für Anwälte und Richter hilfreich ist, verkennt ihre besonderen Bedürfnisse bei der Nutzung des Ökosystems Recht. Anders als uns Juristen, die im Konzept der Verteilungsgerechtigkeit gefangen sind, geht es „Rechtsuchenden“ auch, wenn nicht sogar primär um Verfahrensgerechtigkeit. Sie macht sich nicht an Ergebnissen fest, sondern unter anderem an der Möglichkeit zu Partizipation, an durch Zugewandtheit entgegengebrachtem Respekt und Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers. Diesen Grundbedürfnissen werden nicht alle Ideen, die Juristen gegenwärtig für die digitale Welt der Zukunft ersinnen, gerecht. Dies gilt es umso mehr zu bedenken, als die digitale Spaltung der Gesellschaft nicht ab-, sondern zunimmt. Nach der Studie „Digitale Spaltung 2023“ nutzen 23 % der Menschen in Deutschland das Internet nicht zur Lösung von Problemen – besonders häufig sind es vulnerable Personen, die des besonderen Schutzes durch unser Rechtssystem bedürfen. Auch sie müssen sich in der künftigen digitalen Welt der Juristen gut aufgehoben fühlen.

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Prof. Dr. Matthias Kilian ist Direktor des Instituts für Anwaltsrecht an der Universität zu Köln.