Wiederaufnahme zulasten eines Freigesprochenen. Der Grundsatz des „ne bis in idem“ dürfte (neben dem sprichwörtlichen „in dubio pro reo“) den lateinischen Wortschatz der allermeisten Juristen bereichern. Das BVerfG verkündet am 31.10., wie weit dieses Verbot der Doppelbestrafung reicht – und das in einem Mordfall, der sich vor über 40 Jahren zugetragen hat. Das LG Lüneburg hatte einen Arbeiter zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er die Schülerin Frederike von Möhlmann vergewaltigt und ermordet haben sollte. Das Mädchen war von einer Chorprobe in Celle ins heimische Hambühren getrampt. Wegen Mängeln in der Beweisführung, bei denen es um Reifenspuren am Fundort der Leiche in einem Waldstück sowie um Faserspuren an der Kleidung ging, ordnete der BGH eine neue Verhandlung vor dem LG Stade an. Das sprach 1983 den drei Jahre zuvor aus der Türkei eingewanderten Kurden von dem Vorwurf frei, elfmal auf die 17-Jährige eingestochen und ihr die Kehle durchtrennt zu haben.
Doch die Kriminaltechnik entwickelte sich weiter, und im Jahr 2012 kam das niedersächsische LKA nach einer DNA-Untersuchung von Sekretanhaftungen zu dem Schluss: Der Mann komme als Verursacher dieser Spermaspur in Betracht. Frederikes Vater kämpfte daraufhin für eine Gesetzesänderung, um einen neuen Prozess möglich zu machen. Für eine Petition sammelte er rund 180.000 Unterschriften, und die Große Koalition erweiterte § 362 StPO, der schon damals unter bestimmten Voraussetzungen eine Wiederaufnahme zuungunsten eines Verurteilten erlaubte, um eine neue Nr. 5. Danach kann ein rechtskräftiger Freispruch überprüft werden, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden“, dass es nun doch zu einer Verurteilung wegen Mordes oder einer anderen unverjährbaren Tat nach dem VStGB kommt. Dieses „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ aus dem Dezember 2021 erntete heftige Kritik aus der Anwaltschaft. Unter Rechtswissenschaftlern scheiden sich freilich die Geister, inwieweit Art. 103 II GG, der nach seinem Wortlaut eine mehrfache Bestrafung verbietet, auch einer abermaligen Strafverfolgung entgegensteht.