Interview
DDR-Juristen zwischen Macht und Recht
Interview
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Waren Juristen in der DDR ideologieanfälliger als Vertreter anderer Berufe? Dienten sie gar einem Unrechtsstaat? Dieser und weiteren Fragen geht Inga Markovits, emeritierte Professorin der University of Texas, in ihrem aktuellen Buch „Diener zweier Herren“ nach. Wir haben uns mit ihr über die Ergebnisse ihrer Untersuchung unterhalten.

16. Dez 2020

NJW: In Ihrem aktuellen Buch untersuchen Sie die Rolle von DDR-Juristen zwischen Recht und Macht. Was faszinierte Sie an dem Thema?

Markovits: Das hängt mit meiner Biographie zusammen. Ich kann mich genau an den Moment erinnern, in dem ich begann, mich für DDR-Rechtsgeschichte zu interessieren: an einem Winterabend nach dem Mauerbau in Ostberlin. Ich stand vor dem erleuchteten Fenster einer Buchhandlung in der Friedrichstraße und betrachtete die Exponate: ein paar juristische Bücher, Verschiedenes zum Marxismus-Leninismus, und dazwischen, in leuchtendem Kirschrot, Parteidokumente aller Art. Das Arrangement machte deutlich, dass die Bücher zusammengehören sollten. „Hier ist Dein Thema“, dachte ich, „die Verflechtung von Macht und Recht in einer Diktatur.“ Ich hatte an der FU in West-Berlin mein Jura-Studium abgeschlossen und suchte nach einem Thema für eine Doktorarbeit. Am Ende hieß sie „Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR“, handelt von den Mühen ostdeutscher Partei-Juristen, ein sozialistisches Zivilgesetzbuch zu entwerfen, beschäftigte sich ganz traditionell ausschließlich mit Dogmatik und erschien 1969. Schon zwei Jahre vorher hatte ich meinen amerikanischen Mann geheiratet und in den USA meinen ersten Universitätsjob gefunden. Hier entdeckte ich die Empirie.

NJW: Gab es denn zu der Zeit an amerikanischen Universitäten überhaupt Material zu Ihrem Thema?

Markovits: Nein, an Rechtstatsachen aus der DDR war nicht heranzukommen. Ich sammelte, was ich an ostdeutscher Justizstatistik finden konnte, und machte gelegentliche Touristen-Reisen in die DDR. Dabei sprach ich mit jedem, der bereit war, mir etwas über Erfahrungen mit dem DDR-Recht zu erzählen. Dann kam die Wende. Und ein kleiner Staat an der Frontlinie des Kalten Kriegs wurde über Nacht zu einem Schlaraffenland für zeitgeschichtliche Forschung. Weil die SED von allen Amtsinhabern eine regelmäßige Berichterstattung gefordert und sie häufig inspiziert hatte, gab es so viele Unterlagen über den politischen Alltag in der DDR, dass ich an ihre Rechtsgeschichte mehr und intimere Fragen stellen konnte als an die der Bundesrepublik. So schrieb ich nach 1989 drei Bücher über DDR-Recht. „Diener zweier Herren“ ist das jüngste Werk. Darin geht es um die Frage, wie nützlich Recht und Juristen auch in einer Diktatur sein können.

NJW: Warum haben Sie sich dabei auf die Rechtswissenschaftler der Humboldt-Universität konzentriert?

Markovits: Ich wollte diese Frage in gesellschaftlicher Bodennähe untersuchen: aus dem Blickwinkel einer kleinen Gruppe von Juristen, deren Arbeit der SED genehm sein musste. Wie bewältigten sie in ihrem Arbeitsalltag die Widersprüche zwischen Macht und Recht? Dafür brauchte ich ein Labor, in dem ich die Beziehungen zwischen der SED und ostdeutschen Juristen in 40 Jahren DDR-Geschichte so genau wie möglich unter die Lupe nehmen konnte. Meine Wahl fiel auf die juristische Fakultät der HUB. Denn als einzige ostdeutsche Fakultät, die Richter und Anwälte ausbildete, wurden deren Rechtswissenschaftler besonders genau überwacht. Als ein sich ständig veränderndes Kollektiv erlaubte mir mein Sample auch, die Beziehungen unter den Kollegen zu verfolgen. Das Archiv der Humboldt-Universität war eine zusätzliche Quelle. Mein Sample ist zwar zu klein, um für die Ergebnisse eine statistische Signifikanz beanspruchen zu können. Aber die Vielfalt der Daten erlaubte mir auch, Fragen zu stellen, denen ich in einer quantitativen Untersuchung nie hätte nachgehen können.

NJW: Welchen Einfluss hatte die SED-Spitze auf den Lehrbetrieb bzw. wie politisch war der?

Markovits: Vorlesungen sind schwerer zu überwachen als Veröffentlichungen, und mir ist kein Fall bekannt, in dem ein Jura-Dozent nur wegen gesprochener Worte zur Verantwortung gezogen wurde. Aber das Verfassen von juristischen Lehrbüchern – immer nur eins pro Rechtszweig, um Studenten nicht durch Meinungsvielfalt zu verwirren – war eine von der Partei kommandierte Staatsaffäre, die den Verfassern wenig Raum ließ. Riskante Vorlesungen, wie das politische Strafrecht, gab man gerne an Gastdozenten von der Stasi-Akademie in Potsdam-Eiche ab.

NJW: Gab es seitens der SED auch Vorgaben für das wissenschaftliche Arbeiten?

Markovits: Es gab die langfristige Forschungsplanung, um die man sich herumschlängeln konnte, und – zeitraubender – sehr viele staatliche Auftragsarbeiten, vor allem die Mitarbeit bei der Gesetzgebung. In den Honecker-Jahren kamen großangelegte Forschungsprojekte des ZK („Z-Projekte“) hinzu, die sich oft über mehrere Jahre hinzogen. Wenn möglich, schoben die HUB-Juristen einen Teil davon ihren Assistenten zu. In den 1980 er Jahren gab es auf Rechtsgebieten, die der Partei nicht zu nahe rückten, etwa im Familienrecht, auch eigene, mithilfe von Studenten durchgeführte, empirische Forschungsprojekte an der Fakultät.

NJW: Arrangierten sich die Rechtswissenschaftler damit, oder gab es wenigstens Ansätze von Aufbegehren?

Markovits: Im kurzen Tauwetter nach dem XX. Parteitag der KPdSU von 1956 kamen auch Reformvorschläge von HUB-Juristen, denen die berüchtigte Babelsberger Konferenz von 1958 ein Ende machte. In ihrer Reaktion auf Babelsberg entwickelten ostdeutsche Rechtswissenschaftler eine Reihe von Strategien, um eigene Gedanken anzumelden. Staatsrechtler mussten vorsichtiger sein als andere und schrieben nach eigenen Angaben oft für den Schreibtisch. Es gab die „Code-Sprache für Eingeweihte“, in der Kritik so sorgfältig umschrieben wurde, dass sie zwar Gleichgesinnte erkannten, aber nicht die SED. In abgelegenen Publikationen durfte man etwas deutlicher sein. Und es gab ein paar mutige Verwaltungsrechtler in Leipzig und Jena.

NJW: Wie war das Verhältnis der SED zu Juristen bzw. Rechtswissenschaftlern?

Markovits: Voller Argwohn, und das zu Recht. Es gab so gut wie keine Juristen an der Spitze der Partei. Unter Ulbricht rissen Vorwürfe nicht ab, dass DDR-Juristen über den bürgerlichen Dogmatismus nie herausgekommen seien. Unter Honecker wurden Recht und Juristen im Dienst der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zwar aufgewertet, standen aber immer noch unter der Fuchtel der SED. Kein anderes Ostblockland bildete so wenig Juristen aus wie die DDR.

NJW: Wie haben Ihre Protagonisten den Mauerfall empfunden? Als Chance oder eher als Bedrohung?

Markovits: Die letzten HUB-Akten vom November 1989 reflektieren Verleugnung der Wirklichkeit und dann Panik. 1990 war ich an der Überprüfung von HUB-Juristen beteiligt und hatte bei diesen Gesprächen den Eindruck, dass selbst die Dozenten, die sich der Überprüfung stellten, vermuteten, der Rechtsstaat werde sie nicht willkommen heißen. So war es auch.

NJW: Konnten einzelne HUB-Professoren – namentlich die jungen – ihre wissenschaftliche Karriere nach dem Ende der DDR im Westen fortsetzen?

Markovits: An der HUB wurde, anders als an anderen ostdeutschen Universitäten, eine Reihe älterer JuraProfessoren übernommen. Aber soweit ich weiß, war keiner der jungen Leute dabei. Ostdeutsche Jura-Fakultäten waren kein guter Nährboden für wissenschaftlichen Nachwuchs.

NJW: Wurde etwas von den DDR-Rechtswissenschaften in den Rechtsstaat gerettet?

Markovits: 2006 antwortete Rosemarie Will, von 1990 bis 1993 juristische Dekanin an der HUB, auf die Frage, was von der DDR-Rechtswissenschaft denn noch übrig sei: „Ich sehe nichts, was geblieben ist.“ Es wird außer Historikern nicht viele Leute geben, die heute noch Artikel in „Staat und Recht“ lesen. Aber juristische Aufsätze haben nirgendwo ein langes „shelf life“.

NJW: Lässt sich die Rolle von Rechtswissenschaftlern in der DDR auf eine Faustformel herunterbrechen?

Markovits: Dass Recht, auch schlechtes Recht, besser ist als Willkür und dass Juristen, auch in einer Diktatur, bei der Befestigung einer gesellschaftlichen Ordnung helfen können, in der Gerechtigkeit möglich wird. •

Prof. Dr. Inga Markovits studierte Jura an der FU Berlin, außerdem Politische Wissenschaften an der Cornell University, N.Y.; von der Yale Law School erhielt sie einen Master. Sie war unter anderem Attachée an der Deutschen Botschaft in Tel Aviv. An der University of Texas unterrichtete sie bis zu ihrer Emeritierung im September 2018 amerikanisches Familienrecht und Rechtsvergleichung.

Interview: Monika Spiekermann.