NJW: Die Notwendigkeit einer ökologischen Transformation unserer Gesellschaft steht angesichts des Klimawandels außer Frage. Welchen Beitrag kann unsere Verfassung dazu leisten?
Kersten: Wir müssen unser individuelles und gesellschaftliches Leben ändern. Es gilt, verfassungsrechtliche „Dämme gegen die Selbstzerstörung“ (v. Krockow) zu errichten.
NJW: Wie verhält sich das Grundgesetz bereits heute zu unserer ökologischen Verantwortung? Und was wurde dadurch verändert?
Kersten: Das Grundgesetz wird mit der Staatszielbestimmung „Umweltschutz“ in Art. 20a unserer ökologischen Verantwortung nicht gerecht. Diese Regelung hat seit ihrer Einführung praktisch keine nennenswerte Rolle gespielt. Die ökologische Rechtsentwicklung wäre in den vergangenen 30 Jahren nicht anders verlaufen, wenn es Art. 20a GG nicht gegeben hätte.
NJW: Der Klimabeschluss des BVerfG vom März 2021 (NJW 2021, 1723) wurde als epochal bzw. Weckruf zum Klimaschutz gefeiert. Hat das Gericht damit bereits die von Ihnen geforderte ökologische Transformation vollzogen?
Kersten: Der Klima-Beschluss ist die erste innovative Entscheidung des BVerfG zu Art. 20a GG. Das Recht der intertemporalen Freiheitssicherung ist von zentraler Bedeutung für die Entfaltung einer ökologischen Verfassungsordnung. Der Ansatz lässt sich rechtsdogmatisch verallgemeinern. Es kann nun auch ein Recht auf intertemporale Gleichheitssicherung mit Blick auf natürliche Ressourcen und ein Recht auf intertemporale Teilhabesicherung mit Blick auf Biodiversität aus dem Grundgesetz hergeleitet werden. „Taking future rights seriously“ lautet die neue rechtsdogmatische Aufgabe. Zugleich darf man aber auch nicht übersehen, dass die juristische Ökobilanz des BVerfG alles andere als positiv ist, wenn Sie „nur“ an die Karlsruher Atomrechtsrechtsprechung denken oder die Entscheidungen zum Containern und zu Tierrechten.
NJW: Bei welchen Abschnitten unserer Verfassung setzen Ihre Überlegungen an? Wo sehen Sie den größten ökologischen Reformbedarf?
Kersten: Es bedarf einer umfassenden ökologischen Transformation des Grundgesetzes.
NJW: Gibt es Abschnitte, die Sie von Ihren Überlegungen ausnehmen? Wir denken da beispielsweise an die Grundrechte.
Kersten: Nein, gerade die Grundrechte sind für die ökologische Transformation unserer Verfassungsordnung zentral. Wir müssen über drei Veränderungen des Grundrechtskatalogs nachdenken: Erstens sollten wir neue ökologische Grundrechte einführen. So ist es beispielsweise notwendig, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit um ein Recht auf ökologische Integrität zu ergänzen, das eine intakte Umwelt und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen garantiert. Aber auch ein Recht auf ökologische Informationen sollte aufgenommen werden, um die Grundlage für den ökologischen Strukturwandel der Öffentlichkeit zu bilden. Zweitens ist es notwendig, die ökologischen Schranken der Grundrechte ausdrücklich im Grundgesetz benennen. So ist neben der Sozialpflichtigkeit die Ökologiepflichtigkeit des Eigentums ausdrücklich zu regeln. Drittens sollten wir auch Rechte der Natur in das Grundgesetz aufnehmen.
NJW: Rechte der Natur? Ist das nicht juristische Esoterik?
Kersten: Keineswegs. In rechtsvergleichender Perspektive gibt es längst einen globalen Trend der Anerkennung der Rechte der Natur. Dabei hat vor allem die Verfassung von Ecuador eine globale Vorreiterrolle übernommen. Deshalb wird auch inzwischen bei uns vorgeschlagen, wie dort die Rechte von Ökosystemen in neu zu schaffenden Art. 20b ff. GG zu verankern. Ich persönlich würde allerdings einen anderen Weg gehen: Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind (Art. 19 III GG). Hier ließen sich neben den sozialen und ökonomischen (juristischen) Personen auch ökologische (juristische) Personen anerkennen. Damit wäre es Aufgabe des Gesetzgebers, neben dem ökonomischen Gesellschaftsrecht (HGB, GmbHG, AktG) ein ökologisches Gesellschaftsrecht in einem längst überfälligen Umweltgesetzbuch auszudifferenzieren.
NJW: Wie muss man sich das vorstellen?
Kersten: Der Gesetzgeber könnte unterschiedliche Regelungsansätze verfolgen. Es wäre möglich, Tiere als individuelle Personen anzuerkennen, die sich beispielsweise auf die Rechte der Bewegungsfreiheit, Unversehrtheit und Leben berufen könnten. Analog ließe sich hinsichtlich der individuellen Rechtssubjektivität bei charismatischen Pflanzenarten verfahren. Demgegenüber könnte man nicht-charismatische Pflanzenarten als Teil eines Ökosystems schützen, also etwa im Kontext einer Landschaft oder eines Flusses, die ihrerseits wiederum als ökologische Personen anerkannt werden. Umweltmedien wie Luft, Klima oder Wasser lassen sich ebenfalls als juristische Personen normativ verfassen. Es ist klar, dass der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang auch die Vertretung von ökologischen Personen regeln muss. Hier kann er zwischen verschiedenen Modellen wählen: von der Vertretung durch individuelle menschliche Personen über Vereine und Verbände bis zur Popularklage. Mit dieser Anerkennung und Ausgestaltung der Rechte der Natur oder von ökologischen Personen im Grundgesetz wird „juristische Waffengleichheit“ in der Abwägung von sozialen, ökonomischen und ökologischen Interessen hergestellt.
NJW: Wie sieht es im Staatsorganisationsrecht aus?
Kersten: Zunächst sollten wir das ökologische Prinzip in Art. 20 I GG aufnehmen: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer, sozialer und ökologischer Bundesstaat.“ Sodann wäre es angezeigt, die ökologische Staatszielbestimmung des Art. 20a GG klarer zu fassen: zum einen mit Blick auf den ausdrücklichen Schutz der Arten, des Klimas und der Meere; zum anderen hinsichtlich der Gewährleistung umweltgerechter Lebensverhältnisse für die gegenwärtigen und künftigen Generationen.
NJW: Welche Auswirkungen hätte dies im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes?
Kersten: Wir sollten allen Staatsorganen ökologische Funktionen zuweisen, damit die ökologische Sensibilität des parlamentarischen Regierungssystems gesteigert wird. So könnte der Bundestag jedes Jahr eine ökologische Haushaltsdebatte führen und eine Naturbeauftrage – analog zur Wehrbeauftragten – die ökologische Professionalität des Parlaments erhöhen. Die Bundesregierung folgt den ökologischen Richtlinien der Politik, und die Umweltministerin erhält ein Widerspruchsrecht bei ökologisch bedeutsamen Entscheidungen der Bundesregierung. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
NJW: Manche befürchten, die ökologische Transformation führe zu sozialer Ungerechtigkeit bzw. zur Öko-Diktatur. Zu Recht?
Kersten: Wer auf die notwendige ökologische Transformation unserer Verfassungsordnung mit dem reflexhaften Schlagwort der „Öko-Diktatur“ reagiert, übt sich angesichts von Artensterben, Klimakatastrophe und Globalvermüllung schlicht in aktiver oder defensiver Ignoranz. Darüber hinaus sollte man die notwendigen sozialen und ökologischen Reformen im Anthropozän nicht gegeneinander ausspielen. Wir brauchen eine soziale und zugleich ökologische Transformation unserer Verfassungsordnung.
NJW: Wenn wir Sie richtig verstanden haben, ist es also keine Illusion, dass sich die Bundesrepublik in Art. 20 GG auch zum ökologischen Prinzip bekennt?
Kersten: Davon bin ich überzeugt. Je länger wir angesichts der anthropozänen Katastrophen die ökologische Transformation unserer Verfassungsordnung aufschieben, desto radikaler werden wir uns anpassen müssen. Das Klima wird nicht mit uns „verhandeln“.
Prof. Dr. Jens Kersten studierte Jura in Heidelberg, Leeds und Bonn; das Referendariat absolvierte er in Berlin. Promotion und Habilitation erfolgten an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2008 lehrt er Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU München; er forscht unter anderem zu Natur und Gesellschaft im Anthropozän. Im Oktober ist im Verlag C.H.Beck sein Buch „Das ökologische Grundgesetz“ erschienen.
Dieser Inhalt ist zuerst in der NJW erschienen. Sie möchten die NJW kostenlos testen? Jetzt vier Wochen gratis testen inkl. Online-Modul NJWDirekt.