Interview

„Das Klima wird nicht mit uns ver­han­deln“
Interview
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Der Kli­ma­wan­del be­droht die mensch­li­che Exis­tenz. Um die damit ein­her­ge­hen­den öko­lo­gi­schen Ri­si­ken und Ge­fah­ren an­zu­ge­hen, be­darf es einer Trans­for­ma­ti­on un­se­rer Ge­sell­schaft und Ver­fas­sungs­ord­nung, meint Prof. Dr. Jens Kers­ten. Im In­ter­view mit uns er­läu­tert er, wie dies ge­lin­gen kann.

6. Nov 2022

NJW: Die Not­wen­dig­keit einer öko­lo­gi­schen Trans­for­ma­ti­on un­se­rer Ge­sell­schaft steht an­ge­sichts des Kli­ma­wan­dels außer Frage. Wel­chen Bei­trag kann un­se­re Ver­fas­sung dazu leis­ten?

Kers­ten: Wir müs­sen unser in­di­vi­du­el­les und ge­sell­schaft­li­ches Leben än­dern. Es gilt, ver­fas­sungs­recht­li­che „Dämme gegen die Selbst­zer­stö­rung“ (v. Kroc­kow) zu er­rich­ten.

NJW: Wie ver­hält sich das Grund­ge­setz be­reits heute zu un­se­rer öko­lo­gi­schen Ver­ant­wor­tung? Und was wurde da­durch ver­än­dert?

Kers­ten: Das Grund­ge­setz wird mit der Staats­ziel­be­stim­mung „Um­welt­schutz“ in Art. 20a un­se­rer öko­lo­gi­schen Ver­ant­wor­tung nicht ge­recht. Diese Re­ge­lung hat seit ihrer Ein­füh­rung prak­tisch keine nen­nens­wer­te Rolle ge­spielt. Die öko­lo­gi­sche Rechts­ent­wick­lung wäre in den ver­gan­ge­nen 30 Jah­ren nicht an­ders ver­lau­fen, wenn es Art. 20a GG nicht ge­ge­ben hätte.

NJW: Der Kli­ma­be­schluss des BVerfG vom März 2021 (NJW 2021, 1723) wurde als epo­chal bzw. Weck­ruf zum Kli­ma­schutz ge­fei­ert. Hat das Ge­richt damit be­reits die von Ihnen ge­for­der­te öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on voll­zo­gen?

Kers­ten: Der Klima-Be­schluss ist die erste in­no­va­ti­ve Ent­schei­dung des BVerfG zu Art. 20a GG. Das Recht der in­ter­tem­po­ra­len Frei­heits­si­che­rung ist von zen­tra­ler Be­deu­tung für die Ent­fal­tung einer öko­lo­gi­schen Ver­fas­sungs­ord­nung. Der An­satz lässt sich rechts­dog­ma­tisch ver­all­ge­mei­nern. Es kann nun auch ein Recht auf in­ter­tem­po­ra­le Gleich­heits­si­che­rung mit Blick auf na­tür­li­che Res­sour­cen und ein Recht auf in­ter­tem­po­ra­le Teil­ha­be­si­che­rung mit Blick auf Bio­di­ver­si­tät aus dem Grund­ge­setz her­ge­lei­tet wer­den. „Ta­king fu­ture rights se­rious­ly“ lau­tet die neue rechts­dog­ma­ti­sche Auf­ga­be. Zu­gleich darf man aber auch nicht über­se­hen, dass die ju­ris­ti­sche Öko­bi­lanz des BVerfG alles an­de­re als po­si­tiv ist, wenn Sie „nur“ an die Karls­ru­her Atom­rechts­recht­spre­chung den­ken oder die Ent­schei­dun­gen zum Con­tai­nern und zu Tier­rech­ten.

NJW: Bei wel­chen Ab­schnit­ten un­se­rer Ver­fas­sung set­zen Ihre Über­le­gun­gen an? Wo sehen Sie den grö­ß­ten öko­lo­gi­schen Re­form­be­darf?

Kers­ten: Es be­darf einer um­fas­sen­den öko­lo­gi­schen Trans­for­ma­ti­on des Grund­ge­set­zes.

NJW: Gibt es Ab­schnit­te, die Sie von Ihren Über­le­gun­gen aus­neh­men? Wir den­ken da bei­spiels­wei­se an die Grund­rech­te.

Kers­ten: Nein, ge­ra­de die Grund­rech­te sind für die öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on un­se­rer Ver­fas­sungs­ord­nung zen­tral. Wir müs­sen über drei Ver­än­de­run­gen des Grund­rechts­ka­ta­logs nach­den­ken: Ers­tens soll­ten wir neue öko­lo­gi­sche Grund­rech­te ein­füh­ren. So ist es bei­spiels­wei­se not­wen­dig, das Recht auf Leben und kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit um ein Recht auf öko­lo­gi­sche In­te­gri­tät zu er­gän­zen, das eine in­tak­te Um­welt und die Er­hal­tung der na­tür­li­chen Le­bens­grund­la­gen ga­ran­tiert. Aber auch ein Recht auf öko­lo­gi­sche In­for­ma­tio­nen soll­te auf­ge­nom­men wer­den, um die Grund­la­ge für den öko­lo­gi­schen Struk­tur­wan­del der Öf­fent­lich­keit zu bil­den. Zwei­tens ist es not­wen­dig, die öko­lo­gi­schen Schran­ken der Grund­rech­te aus­drück­lich im Grund­ge­setz be­nen­nen. So ist neben der So­zi­al­pflich­tig­keit die Öko­lo­gie­pflich­tig­keit des Ei­gen­tums aus­drück­lich zu re­geln. Drit­tens soll­ten wir auch Rech­te der Natur in das Grund­ge­setz auf­neh­men.

NJW: Rech­te der Natur? Ist das nicht ju­ris­ti­sche Eso­te­rik?

Kers­ten: Kei­nes­wegs. In rechts­ver­glei­chen­der Per­spek­ti­ve gibt es längst einen glo­ba­len Trend der An­er­ken­nung der Rech­te der Natur. Dabei hat vor allem die Ver­fas­sung von Ecua­dor eine glo­ba­le Vor­rei­ter­rol­le über­nom­men. Des­halb wird auch in­zwi­schen bei uns vor­ge­schla­gen, wie dort die Rech­te von Öko­systemen in neu zu schaf­fen­den Art. 20b ff. GG zu ver­an­kern. Ich per­sön­lich würde al­ler­dings einen an­de­ren Weg gehen: Die Grund­rech­te gel­ten auch für in­län­di­sche ju­ris­ti­sche Per­so­nen, so­weit sie ihrem Wesen nach auf diese an­wend­bar sind (Art. 19 III GG). Hier ­ließen sich neben den so­zia­len und öko­no­mi­schen ­(ju­ris­ti­schen) Per­so­nen auch öko­lo­gi­sche (ju­ris­ti­sche) Per­so­nen an­er­ken­nen. Damit wäre es Auf­ga­be des Ge­setz­ge­bers, neben dem öko­no­mi­schen Ge­sell­schafts­recht (HGB, GmbHG, AktG) ein öko­lo­gi­sches Ge­sell­schafts­recht in einem längst über­fäl­li­gen Um­welt­ge­setz­buch aus­zu­dif­fe­ren­zie­ren.

NJW: Wie muss man sich das vor­stel­len?

Kers­ten: Der Ge­setz­ge­ber könn­te un­ter­schied­li­che Re­ge­lungs­an­sät­ze ver­fol­gen. Es wäre mög­lich, Tiere als in­di­vi­du­el­le Per­so­nen an­zu­er­ken­nen, die sich bei­spiels­wei­se auf die Rech­te der Be­we­gungs­frei­heit, Un­ver­sehrt­heit und Leben be­ru­fen könn­ten. Ana­log ließe sich hin­sicht­lich der in­di­vi­du­el­len Rechts­sub­jek­ti­vi­tät bei cha­ris­ma­ti­schen Pflan­zen­ar­ten ver­fah­ren. Dem­ge­gen­über könn­te man nicht-cha­ris­ma­ti­sche Pflanzen­arten als Teil eines Öko­sys­tems schüt­zen, also etwa im Kon­text einer Land­schaft oder eines Flus­ses, die ih­rer­seits wie­der­um als öko­lo­gi­sche Per­so­nen an­er­kannt wer­den. Um­welt­me­di­en wie Luft, Klima oder Was­ser las­sen sich eben­falls als ju­ris­ti­sche Per­so­nen nor­ma­tiv ver­fas­sen. Es ist klar, dass der Ge­setz­ge­ber in die­sem Zu­sam­men­hang auch die Ver­tre­tung von öko­lo­gi­schen Per­so­nen re­geln muss. Hier kann er zwi­schen ver­schie­de­nen Mo­del­len wäh­len: von der Ver­tre­tung durch in­di­vi­du­el­le mensch­li­che Per­so­nen über Ver­ei­ne und Ver­bän­de bis zur Po­pu­lar­k­la­ge. Mit die­ser An­er­ken­nung und Aus­ge­stal­tung der Rech­te der Natur oder von öko­lo­gi­schen Per­so­nen im Grund­ge­setz wird „ju­ris­ti­sche Waf­fen­gleich­heit“ in der Ab­wä­gung von so­zia­len, öko­no­mi­schen und öko­lo­gi­schen In­ter­es­sen her­ge­stellt.

NJW: Wie sieht es im Staats­or­ga­ni­sa­ti­ons­recht aus?

Kers­ten: Zu­nächst soll­ten wir das öko­lo­gi­sche Prin­zip in Art. 20 I GG auf­neh­men: „Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ist ein de­mo­kra­ti­scher, so­zia­ler und öko­lo­gi­scher Bun­des­staat.“ So­dann wäre es an­ge­zeigt, die öko­lo­gi­sche Staats­ziel­be­stim­mung des Art. 20a GG ­klarer zu fas­sen: zum einen mit Blick auf den aus­drück­li­chen Schutz der Arten, des Kli­mas und der Meere; zum an­de­ren hin­sicht­lich der Ge­währ­leis­tung um­welt­ge­rech­ter Le­bens­ver­hält­nis­se für die ge­gen­wär­ti­gen und künf­ti­gen Ge­ne­ra­tio­nen.

NJW: Wel­che Aus­wir­kun­gen hätte dies im par­la­men­ta­ri­schen Re­gie­rungs­sys­tem des Grund­ge­set­zes?

Kers­ten: Wir soll­ten allen Staats­or­ga­nen öko­lo­gi­sche Funk­tio­nen zu­wei­sen, damit die öko­lo­gi­sche Sen­si­bi­li­tät des par­la­men­ta­ri­schen Re­gie­rungs­sys­tems ge­stei­gert wird. So könn­te der Bun­des­tag jedes Jahr eine öko­lo­gi­sche Haus­halts­de­bat­te füh­ren und eine Na­tur­be­auf­tra­ge – ana­log zur Wehr­be­auf­trag­ten – die öko­lo­gi­sche Pro­fes­sio­na­li­tät des Par­la­ments er­hö­hen. Die Bun­des­re­gie­rung folgt den öko­lo­gi­schen ­Richtlinien der Po­li­tik, und die Um­welt­mi­nis­te­rin er­hält ein Wi­der­spruchs­recht bei öko­lo­gisch be­deut­sa­men Ent­schei­dun­gen der Bun­des­re­gie­rung. Die Auf­zäh­lung ließe sich fort­set­zen.

NJW: Man­che be­fürch­ten, die öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on führe zu so­zia­ler Un­ge­rech­tig­keit bzw. zur Öko-Dik­ta­tur. Zu Recht?

Kers­ten: Wer auf die not­wen­di­ge öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on un­se­rer Ver­fas­sungs­ord­nung mit dem re­flex­haf­ten Schlag­wort der „Öko-Dik­ta­tur“ re­agiert, übt sich an­ge­sichts von Ar­ten­ster­ben, Kli­ma­ka­ta­stro­phe und Glo­bal­ver­mül­lung schlicht in ak­ti­ver oder de­fen­si­ver Igno­ranz. Dar­über hin­aus soll­te man die not­wen­di­gen so­zia­len und öko­lo­gi­schen Re­for­men im An­thro­po­zän nicht ge­gen­ein­an­der aus­spie­len. Wir brau­chen eine so­zia­le und zu­gleich öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on un­se­rer Ver­fas­sungs­ord­nung.

NJW: Wenn wir Sie rich­tig ver­stan­den haben, ist es also keine Il­lu­si­on, dass sich die Bun­des­re­pu­blik in Art. 20 GG auch zum öko­lo­gi­schen Prin­zip be­kennt?

Kers­ten: Davon bin ich über­zeugt. Je län­ger wir an­ge­sichts der an­thro­po­zä­nen Ka­ta­stro­phen die öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on un­se­rer Ver­fas­sungs­ord­nung auf­schie­ben, desto ra­di­ka­ler wer­den wir uns an­pas­sen müs­sen. Das Klima wird nicht mit uns „ver­han­deln“.

Prof. Dr. Jens Kers­ten stu­dier­te Jura in Hei­del­berg, Leeds und Bonn; das Re­fe­ren­da­ri­at ab­sol­vier­te er in Ber­lin. Pro­mo­ti­on und Ha­bi­li­ta­ti­on er­folg­ten an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin. Seit 2008 lehrt er Öf­fent­li­ches Recht und Ver­wal­tungs­wis­sen­schaf­ten an der LMU Mün­chen; er forscht unter an­de­rem zu Natur und Ge­sell­schaft im An­thro­po­zän. Im Ok­to­ber ist im Ver­lag C.​H.​Beck sein Buch „Das öko­lo­gi­sche Grund­ge­setz“ er­schie­nen.

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Interview: Dr. Monika Spiekermann.