Kolumne
Das Erbe der Aufklärung
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Foto_Gerhard_Strate_WEB
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Der nach dem Mord an dem französischen Geschichtslehrer Samuel Paty wieder neu entfachte Streit um die Mohammed-Karikaturen erinnert daran, dass der deutsche Gesetzgeber bis heute zögert, die letzten notwendigen Schritte zur Säkularisierung zu tun und damit die Aufklärung zu vollenden. Noch immer gilt der anachronistische Blasphemieparagraf (§ 166 StGB), überschrieben mit "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen", der ersatzlos gestrichen gehört.

5. Nov 2020

Am 16.10.2020 wurde der französische Geschichtslehrer Samuel Paty von einem religiös motivierten 18-Jährigen auf offener Straße enthauptet. Das "Vergehen" des Lehrers: Er hatte im Rahmen des Unterrichts das Thema Meinungsfreiheit behandelt und seinen Schülern hierzu auch die Mohammed-Karikaturen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo gezeigt. Ein islamistischer Anschlag auf die Redaktion der laizistisch verorteten Zeitschrift hatte bereits im Jahr 2015 zwölf Todesopfer gefordert.

In der Folge der Ermordung Patys warnt nun auch der Deutsche Lehrerverband vor einem "Klima der Einschüchterung". So würden besonders in Brennpunktschulen Lehrer dazu aufgefordert, Themen wie den Nahostkonflikt oder Israel nicht im Unterricht zu behandeln. Auch wagten Lehrkräfte an manchen Schulen nicht mehr, einen Film wie "Schindlers Liste" zu zeigen.

Diese in Westeuropa um sich greifende Entwicklung weckt längst verloren geglaubte Erinnerungen. Die Erfahrung, dass Meinungsfreiheit nicht naturgegeben ist, sondern regelmäßig neu erkämpft und kraftvoll verteidigt werden muss, ist tief in unserer historischen DNA verankert. Dennoch zögert der deutsche Gesetzgeber bis heute, die letzten notwendigen Schritte zur Säkularisierung zu tun und damit die Aufklärung zu vollenden. Zu den schlimmsten Anachronismen diesbezüglich zählt § 166 StGB, überschrieben mit "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen", landläufig auch als Blasphemieparagraf bekannt. Als einer von wenigen strafrechtlichen Tatbeständen hängt die Anwendung des § 166 StGB maßgeblich von der zu erwartenden Reaktion der "Geschädigten" ab, denn nur, was den "öffentlichen Frieden" stören könnte, fällt in den Geltungsbereich dieser Regelung. Damit sind religiösen Eiferern aller Art Tür und Tor geöffnet: Je kürzer ihre Lunte, desto schneller erfolgt eine Verurteilung des angeblichen Gotteslästerers.

Dass Karikaturen wie die von Charlie Hebdo unter diesen Umständen in Deutschland entstehen könnten, ist eher unwahrscheinlich. Doch trägt es tatsächlich zum öffentlichen Frieden bei, wenn der Gesetzgeber sich an die Seite der Gewaltbereiten stellt? Widerspricht ein Gesetz wie § 166 StGB als Sonderbonus für mangelnde Friedfertigkeit nicht vielmehr dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 GG? Eine säkular-distanzierte gesellschaftliche Auseinandersetzung mit ihren Glaubensinhalten nebst satirischer Überspitzung ist den Anhängern aller Religionen zumutbar. Deshalb ist es höchste Zeit, sich diesem Thema zu widmen und § 166 StGB ersatzlos zu streichen. Das hatte Thomas Fischer schon 1989 empfohlen (GA 1989, 445). Unsere Gerichte sollten nicht länger in die peinliche Lage gebracht werden, irrationale Glaubensinhalte vor ihren Kritikern schützen zu müssen. Engagierte Lehrer und andere kritische Geister sollten zudem wenigstens auf Rechtssicherheit bauen können, wenn sie schon um Leib und Leben fürchten müssen. Dies sind wir dem Erbe der Aufklärung schuldig.

Dr. h. c. Gerhard Strate ist Rechtsanwalt in Hamburg und einer der renommierten Strafverteidiger des Landes. Seine Kolumne "Streiter für den Rechtsstaat" erscheint regelmäßig in der NJW.