Interview
Das Cum-Ex-Gericht

Massenverfahren finden hauptsächlich vor den Zivilgerichten statt. Das LG Bonn steht bei der rechtlichen Aufarbeitung von Cum-Ex derzeit vor der besonderen Herausforderung ­einer Strafprozesswelle. Das Gericht baut dafür sogar ein eigenes Gebäude. Hierzu haben wir den Präsidenten des LG Dr. Stefan Weismann befragt.

15. Feb 2023

NJW: Warum ist das LG Bonn eigentlich für so viele Cum-Ex-Verfahren zuständig?

Weismann: Das Landgericht Bonn ist für die zwischen 2007 bis 2011 begangenen Taten aus dem Cum-Ex-­Bereich gemäß §§ 7 StPO iVm 9 I StGB als Gericht des Tatortes zuständig, da bei dem Bundeszentralamt für Steuern mit Sitz in Bonn die verfahrensgegenständ­lichen Steuererstattungsanträge gestellt wurden.

NJW: Mit wie vielen Verfahren rechnen Sie und welche Steuerschäden sollen damit zurückgeholt werden?

Weismann: Nachdem sich die Anzahl der Beschuldigten nach Angaben der Staatsanwaltschaft von anfänglich 400 in rund 60 Verfahrenskomplexen auf inzwischen mehr als 1.500 in 100 Verfahrenskomplexen erhöht hat, ist nach den Entscheidungen des BGH, die sämtlich die hiesigen Urteile, wonach bestimmte Cum-Ex-Geschäfte rechtswidrig sind, vollumfänglich bestätigt haben, mit einer höheren dreistelligen Zahl von ­Verfahren zu rechnen. Dabei ist einerseits zu beachten, dass aus prozessökonomischen Gründen in einem so besonderen Verfahren die Hauptverhandlung in der ­Regel nicht gegen mehr als vier Angeklagte durchgeführt werden kann. Hinzu werden in vielen Verfahren wahrscheinlich Einziehungsbeteiligte im Wege des Vermögensabschöpfungsverfahrens kommen, so dass es sich um umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren mit ­einer höheren Anzahl an Verhandlungstagen handeln wird. In welchem Umfang Einziehungen erfolgen und auch vollstreckt werden können, lässt sich aus unserer Sicht nicht seriös abschätzen. Die öffentlich bekannten Schätzungen über den Steuerschaden schwanken und liegen zwischen 11 und 36 Mrd. Euro. Das LG Bonn hat bislang in vier Urteilen die Rückführung von Steuerschäden iHv rund 205 Mio. Euro angeordnet.

NJW: Wie haben Sie personell auf die Prozesswelle ­reagiert? Konkret: Wie viele Richterinnen und Richter haben Sie neu eingestellt und wie viele neue Spruchkörper wurden hierfür eingerichtet?

Weismann: Insgesamt sind für die Bearbeitung des Cum-Ex-Komplexes zehn Strafkammern geplant, mit insgesamt zehn Stellen für Vorsitzende und 20 Stellen für Beisitzer. Zur Zeit sind fünf Cum-Ex-Kammern eingerichtet. Dies dient zum einen dem Personalaufbau und entspricht zum anderen der Anzahl der seitens der Staatsanwaltschaft Köln konkret angekündigten Verfahren. Um diese Prozesse führen zu können, bedarf es einer langwierigen Einarbeitung in die komplexen Bank- und Börsengeschäfte, weshalb das richterliche Personal hierfür zunächst drei Monate von anderer ­Arbeit freigestellt wird. Hierfür haben wir Schulungsmaterial aus den Erkenntnissen der letzten fünf Jahre entwickelt. Dies hat das gesamte Landgericht mitgetragen. Deshalb bin ich auch so besonders stolz auf „meine Leute“.

NJW: Die Verfahren sind vermutlich auch eine Herausforderung für andere Bereiche des Gerichts. Welche Maßnahmen waren noch erforderlich?

Weismann: Organisatorisch und personell stellen solche Verfahren für jedes Gericht eine besondere He­rausforderung dar, weil die Anforderungen häufig andere waren und sind als bei üblichen (Wirtschafts-)Strafverfahren. Besonders wichtig ist zunächst – aus meiner persönlichen Sicht – die Auswahl des richter­lichen Personals, das sich auf längere Zeit mit dieser komplizierten und von der normalen (straf-)richter­lichen Arbeit in Teilen weit entfernten Materie mit Hingabe befassen will. Die in den Cum-Ex-Kammern eingesetzten Kolleginnen und Kollegen mussten sich über mehrere Monate intensiv in die komplexen Strukturen der Aktienkreisgeschäfte und der damit verbundenen Vorgänge einarbeiten, um diese sodann rechtlich einordnen zu können. Plastische Einblicke über die Komplexität der Geschäfte bieten die veröffentlichten Entscheidungen des LG Bonn und der Finanzgerichte. ­Besonderes Augenmerk ist zudem auf die personelle Belastung der Kolleginnen und Kollegen sowohl im richterlichen Dienst wie auch in den anderen Dienstzweigen zu richten und auf die räumliche und säch­liche Ausstattung der Kammern. Beispielhaft kann hier die Verteilung der momentan verfügbaren Sitzungssäle, die Einrichtung von mobilen Simultandolmetscheranlagen, die Zugänglichkeit der mehrere Gigabyte umfassenden Akten für die Verteidigung, das Bereitstellen des erforderlichen Service-Personals genannt werden.

NJW: Sie lassen gerade in Siegburg ein neues Gerichtsgebäude errichten, in dem die Cum-Ex-Strafverfahren verhandelt werden sollen. Warum ist das nötig?

Weismann: Das LG Bonn hatte für rund 1,1 Mio. Gerichtseingesessene unabhängig von Cum-Ex acht erstinstanzliche Strafkammern vorgehalten und ist dementsprechend 1990 mit zwei großen Sälen ausge­stattet worden. Wenn zehn neue erstinstanzliche Strafkammern hinzukommen, die zudem noch im zweistelligen Bereich Sitzungstage benötigen, so ist offensichtlich, dass neue Saalkapazitäten geschaffen werden müssen. Wir haben uns deshalb gemeinsam mit dem Oberlandesgericht und dem Ministerium der Justiz schon seit 2019 damit befasst, wie diesem Bedarf begegnet werden kann. Bis zur ersten Entscheidung des BGH musste dabei immer auch eine Abwägung zwischen den aufgewendeten Planungs- und Markterkundungskosten einerseits und der Wahrscheinlichkeit andererseits stattfinden, dass die vom LG Bonn festgestellte Strafbarkeit der Taten höchstrichterlich Bestand haben und die Einrichtung und Unterbringung weiterer Kammern erforderlich sein wird. Dabei wurde sowohl im gewerblichen Bestandsbau als auch bei Gerichtsgebäuden gesucht. Die einzig vernünftige Lösung ist der Neubau in Siegburg.

NJW: Warum kam die Anmietung von Mehrzweckhallen oder ähnlichen Gebäuden nicht in Betracht?

Weismann: Ein Gerichtssaal muss selbstverständlich besondere Anforderungen erfüllen, insbesondere an Sicherheitsstandards. Dafür ohne Weiteres geeignete Hallen stehen zum einen in Bonn und Umgebung nicht zur Verfügung und zum anderen ist der Neubau auch deutlich wirtschaftlicher, wenn man die Kosten für die Anmietung und den Umbau von Messehallen, wie etwa im Love-Parade-Verfahren, in die Kalkulation einbezieht. Der langfristige Mehrbedarf an Sitzungssälen lässt sich auch nicht durch die Bereitstellung sogenannter Leichtbauhallen decken. Unabhängig davon, dass bereits keine belastbaren Erfahrungen für deren mehrjährige Nutzung vorliegen, konnte auch keine hierfür geeignete Grundstücksfläche gefunden werden. Am Standort des AG Siegburg sind solche Hallen mit der erforderlichen Gesamtsaalfläche nicht umsetzbar.

NJW: Was sprach für Siegburg anstelle von Bonn?

Weismann: In Bonn gab es kein verfügbares Grundstück, das auch nur annähernd den Anforderungen entsprochen hätte. Das Grundstück in Siegburg ist, auch wenn ein Prozessgebäude in der unmittelbaren Nähe des Landgerichts natürlich aus organisatorischen Gründen noch besser gewesen wäre, deshalb besonders geeignet, weil es zum einen die Nutzung der Infrastruktur des Amtsgerichts ermöglicht und zum anderen durch den ICE-Bahnhof und die Stadtbahnlinie nach Bonn sehr gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden ist, so dass sowohl die Prozessbeteiligten als auch die Kollegen und Kolleginnen aus dem Haus das Gerichtsgebäude schnell erreichen können.

NJW: Bereits im kommenden Jahr sollen die ersten Cum-Ex-Verfahren in Siegburg starten. Ist sichergestellt, dass der neue Bau dann auch bezugsfertig ist?

Weismann: Das Prozessgebäude soll planmäßig im Oktober 2024 bereitstehen, so dass wir bis dahin mit den vorhandenen Sälen auskommen müssen. Den aktuellen Bedarf gleichen wir, wie auch in der Vergangenheit, durch Schichtsitzungsbetrieb und Samstagssitzungen aus. Derzeit liegen die Arbeiten im Zeitplan.

NJW: Zum Schluss: Wie sehr wirbelt eine solche Prozesswelle ein Gericht durcheinander – oder hat man durch andere Massenverfahren wie etwa die Diesel-Klagen schon eine gewisse Routine entwickelt?

Weismann: Natürlich stellt diese Prozesswelle einen besonderen Kraftakt für die Justiz dar, der sich in vielfältiger Hinsicht grundlegend von den zivilrechtlichen Dieselklagen unterscheidet. In den letzten fünf Jahren habe ich – vorsichtig geschätzt – rund 30 % Mehrarbeit mit Wochenend- und Feiertagsarbeit wegen Cum-Ex geleistet, und bei den übrigen Beteiligten im LG und OLG wird es nicht wesentlich weniger sein. Doch wir müssen uns dieser mühseligen und komplizierten Aufgabe stellen. Nur wenn alle vor dem Gesetz gleich sind und die Justiz solche Anstrengungen nicht scheut, kann der Rechtsstaat in den Köpfen und Herzen der Bürgerinnen und Bürger verankert werden. Und nur mit dem Rechtsstaat kann es Freiheit und Menschenwürde geben, wie ein Blick in andere Länder zeigt.

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Interview: Tobias Freudenberg / Monika Spiekermann.