Urteilsanalyse

Dar­stel­lung der Ur­teils­grün­de im Be­ru­fungs­ur­teil
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Lässt ein Be­ru­fungs­ge­richt die Re­vi­si­on zu oder un­ter­liegt das Be­ru­fungs­ur­teil der Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de, müs­sen sich die tat­säch­li­chen Grund­la­gen der Ent­schei­dung nach An­sicht des BGH aus dem Ur­teil oder - im Falle des § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO - aus dem Sit­zungs­pro­to­koll so er­schlie­ßen, dass eine re­vi­si­ons­recht­li­che Nach­prü­fung mög­lich ist. Au­ßer­dem muss das Be­ru­fungs­ur­teil er­ken­nen las­sen, von wel­chem Sach- und Streit­stand das Be­ru­fungs­ge­richt aus­ge­gan­gen ist, und die An­trä­ge, wel­che die Par­tei­en im Be­ru­fungs­ver­fah­ren ge­stellt haben, müs­sen zu­min­dest sinn­ge­mäß deut­lich wer­den.

30. Aug 2023

An­mer­kung von
Rich­ter am Kam­mer­ge­richt Dr. Oli­ver Elzer, Ber­lin

Aus beck-fach­dienst Zi­vil­ver­fah­rens­recht 17/2023 vom 25.08.2023

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Zi­vil­ver­fah­rens­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Zi­vil­ver­fah­rens­recht be­inhal­tet er eine er­gän­zen­de Leit­satz­über­sicht. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des Zi­vil­ver­fah­rens­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de.

Sach­ver­halt

Das Land­ge­richt weist die Be­ru­fung des B zu­rück. Im Be­ru­fungs­ur­teil heißt es: „Von der Wie­der­ga­be der tat­säch­li­chen Fest­stel­lun­gen des Amts­ge­richts und der Dar­stel­lung et­wai­ger Än­de­run­gen und Er­gän­zun­gen“ wird „unter Hin­weis auf § 540 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO ab­ge­se­hen“. Das LG – Ein­zel­rich­ter – lässt die Re­vi­si­on zu. Frag­lich ist, ob die für die re­vi­si­ons­recht­li­che Nach­prü­fung nach §§ 545 Abs. 1, 559 ZPO er­for­der­li­che tat­säch­li­che Be­ur­tei­lungs­grund­la­ge vor­liegt. Der BGH ver­neint die Frage.

Ent­schei­dung: Es fehlt an einer Be­ur­tei­lungs­grund­la­ge!

Lasse ein Be­ru­fungs­ge­richt – wie hier – die Re­vi­si­on zu oder un­ter­lie­ge das Be­ru­fungs­ur­teil der Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de, müss­ten sich die tat­säch­li­chen Grund­la­gen der Ent­schei­dung aus dem Ur­teil oder – im Falle des § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO – aus dem Sit­zungs­pro­to­koll so er­schlie­ßen, dass eine re­vi­si­ons­recht­li­che Nach­prü­fung mög­lich sei. Au­ßer­dem müsse das Be­ru­fungs­ur­teil er­ken­nen las­sen, von wel­chem Sach- und Streit­stand das Be­ru­fungs­ge­richt aus­ge­gan­gen sei, und die An­trä­ge, wel­che die Par­tei­en im Be­ru­fungs­ver­fah­ren ge­stellt haben, müss­ten zu­min­dest sinn­ge­mäß deut­lich wer­den (Hin­weis ua auf BGH NJW-RR 2022, 877 Rn. 14 = FD-ZVR 2022, 449639 mAnm. Elzer und BGH NJW-RR 2021, 1016 Rn. 11 = FD-ZVR 2021, 440646 (Ls.)).

Die­sen Er­for­der­nis­sen werde das Be­ru­fungs­ur­teil nicht ge­recht. Nach­dem das Be­ru­fungs­ge­richt die Re­vi­si­on selbst zu­ge­las­sen habe, lägen die Vor­aus­set­zun­gen nach § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 S. 1 ZPO für ein Ab­se­hen von der durch § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO vor­ge­schrie­be­nen Be­zug­nah­me auf die tat­säch­li­chen Fest­stel­lun­gen im an­ge­foch­te­nen Ur­teil mit Dar­stel­lung et­wai­ger Än­de­run­gen und Er­gän­zun­gen nicht vor (Hin­weis ua auf BGH NZM 2017, 732 Rn. 10 und BGH NJW 2017, 3449 Rn. 8 = FD-ZVR 2017, 388874). Im Fall gebe das Be­ru­fungs­ur­teil zwar die im Be­ru­fungs­ver­fah­ren ge­stell­ten An­trä­ge der Par­tei­en und auch das zweit­in­stanz­li­che Par­tei­vor­brin­gen wie­der. Es lasse aber nicht hin­rei­chend er­ken­nen, von wel­chem Sach- und Streit­stand das Be­ru­fungs­ge­richt aus­ge­gan­gen sei. Dem Be­ru­fungs­ur­teil lie­ßen sich ins­be­son­de­re die in ers­ter In­stanz ge­trof­fe­nen tat­säch­li­chen Fest­stel­lun­gen nicht ent­neh­men: Es lasse näm­lich die er­for­der­li­che Be­zug­nah­me auf die Fest­stel­lun­gen des AG ver­mis­sen und ent­hal­te auch weder eine ei­gen­stän­di­ge Wie­der­ga­be der von der Vor­in­stanz zu­grun­de ge­leg­ten Tat­sa­chen noch der von den Par­tei­en erst­in­stanz­lich ge­stell­ten An­trä­ge. Die not­wen­di­gen tat­säch­li­chen Grund­la­gen der Ent­schei­dung lie­ßen sich auch nicht hin­rei­chend deut­lich aus den üb­ri­gen Ur­teils­grün­den er­schlie­ßen oder zu­min­dest sinn­ge­mäß ent­neh­men.

Pra­xis­hin­weis

In einem Be­ru­fungs­ur­teil dür­fen weder tat­be­stand­li­che Dar­stel­lun­gen völ­lig feh­len noch dür­fen sie der­art wi­der­sprüch­lich, un­klar oder lü­cken­haft sein, dass sich die tat­säch­li­chen Grund­la­gen der Ent­schei­dung des Be­ru­fungs­ge­richts nicht mehr zwei­fels­frei er­ken­nen las­sen. Man­gelt es daran, fehlt dem Be­ru­fungs­ur­teil die für die re­vi­si­ons­recht­li­che Nach­prü­fung nach §§ 545, 559 ZPO er­for­der­li­che tat­säch­li­che Be­ur­tei­lungs­grund­la­ge.

Das Be­ru­fungs­ur­teil hat des­halb seine tat­säch­li­chen Grund­la­gen klar­zu­stel­len. Nach § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO ist dazu durch Ver­wei­sung auf die tat­säch­li­chen „Fest­stel­lun­gen“ des an­ge­foch­te­nen Ur­teils (= alter Sach- und Streit­stand) Bezug zu neh­men. Neben dem Sach- und Streit­stand ers­ter In­stanz sind Än­de­run­gen oder Er­gän­zun­gen der dem Be­ru­fungs­ur­teil zu Grun­de zu le­gen­den Tat­sa­chen im Ein­zel­nen dar­zu­stel­len. Das ist vor allem der Fall, so­weit kon­kre­te An­halts­punk­te Zwei­fel an der Rich­tig­keit oder Voll­stän­dig­keit der ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Fest­stel­lun­gen des an­ge­foch­te­nen Ur­teils be­grün­den und des­halb eine er­neu­te Fest­stel­lung ge­bie­ten, § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (zB nach einer Be­weis­auf­nah­me des Be­ru­fungs­ge­rich­tes), so­weit die Be­rück­sich­ti­gung neuer Tat­sa­chen nach § 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zu­läs­sig ist und nach einer gem. § 533 ZPO zu­läs­si­gen Kla­ge­än­de­rung, Auf­rech­nungs­er­klä­rung oder Wi­der­kla­ge.

Die Dar­stel­lung der neuen und alten Tat­sa­chen darf nicht zu knapp er­fol­gen. Bei nur teil­wei­ser An­fech­tung muss der Um­fang des in die Be­ru­fung ge­lang­ten Streit­ge­gen­stan­des deut­lich wer­den. Das Be­ru­fungs­ur­teil soll­te die Be­ru­fungs­an­trä­ge wört­lich wie­der­ge­ben.

BGH, Ur­teil vom 19.07.2023 - VIII ZR 201/22 (LG Wies­ba­den), BeckRS 2023, 19882