Anmerkung von
RA Prof. Dr. Jobst-Hubertus Bauer, Stuttgart
Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 21/2022 vom 02.06.2022
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Sachverhalt
Der Kläger war als Auslieferungsfahrer bei der Beklagten beschäftigt. Seine Arbeitszeit erfasste der Kläger mittels technischer Zeitaufzeichnung, wobei nur Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, nicht jedoch die Pausenzeiten aufgezeichnet wurden. Zum Ende des Arbeitsverhältnisses ergab die Auswertung der Zeitaufzeichnungen einen positiven Saldo von 348 Stunden zu Gunsten des Klägers. Mit seiner Klage hat der Kläger Überstundenvergütung i.H.v. 5.222,67 EUR brutto verlangt. Er hat geltend gemacht, er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet. Pausen zu nehmen sei nicht möglich gewesen, weil sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können. Die Beklagte hat dies bestritten.
Das ArbG Emden (BeckRS 2020, 48508) hat der Klage stattgegeben. Es hat gemeint, durch das Urteil des EuGH vom 14.05.2019 (FD-ArbR 2019, 417677), wonach die Mitgliedsstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, werde die Darlegungslast im Überstundenvergütungsprozess modifiziert. Die positive Kenntnis von Überstunden als eine Voraussetzung für deren arbeitgeberseitige Veranlassung sei jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn der Arbeitgeber sich die Kenntnis durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung hätte verschaffen können. Ausreichend für eine schlüssige Begründung der Klage sei, die Zahl der geleisteten Überstunden vorzutragen.
Das LAG Niedersachsen hat das Urteil des ArbG abgeändert und die Klage mit Ausnahme bereits von der Beklagten abgerechneter Überstunden abgewiesen.
Entscheidung
Die gegen das Urteil des LAG gerichtete und zugelassene Revision des Klägers hatte vor dem 5. Senat des BAG keinen Erfolg. In der Pressemitteilung (FD-ArbR 2022, 448476) heißt es, dass vom Erfordernis der Darlegung der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von Überstunden durch den Arbeitnehmer auch nicht vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 abzurücken sei. Diese Entscheidung sei nur zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 EU-GRCharta ergangen. Nach gesicherter Rechtsprechung des EuGH beschränkten sich diese Bestimmungen darauf, Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Sie fänden indes grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit habe deshalb keine Auswirkung auf die nach deutschem materiellen Recht und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess.
Der Kläger habe nicht hinreichend konkret dargelegt, dass es erforderlich gewesen sei, ohne Pausenarbeiten durchzuarbeiten, um die Auslieferungsfahrten zu erledigen. Das LAG hätte deshalb offenlassen können, ob die von der Beklagten bestrittene Behauptung des Klägers, er habe keine Pausen gehabt, überhaupt stimme.
Praxishinweis
Dem Urteil ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die genannten europäischen Vorschriften und die zitierte Entscheidung des EuGH befasst sich allein mit Fragen des Arbeitsschutzes und der effektiven Begrenzung der Höchstarbeitszeit i.S. eines Gesundheitsschutzes. Richtig ist, dass diese Entscheidung nur zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 EU-GRCharta ergangen ist. Diese Bestimmungen beschränken sich darauf, Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln. Sie finden indes keine Anwendung auf die Vergütung nach §§ 612 I, 611a BGB. Dass dies so ist, folgt auch unmittelbar aus Art. 153 AEUV, der wörtlich lautet: „Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht.“
BAG, Urteil vom 04.05.2022 - 5 AZR 359/21