Urteilsanalyse
Darlegungs- und Beweislast bei § 9 Satz 2 HWG
Urteilsanalyse
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Der Erlaubnistatbestand des § 9 Satz 2 HWG ist ein Ausnahmetatbestand. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die beworbene Fernbehandlung den allgemeinen fachlichen Standards entspricht, liegt nach einem Urteil des OLG Karlsruhe bei dem Werbenden.

6. Feb 2023

Anmerkung von 
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Sebastian Braun, LEX MEDICORUM, Leipzig und cand. iur. Henriette Reinsch, Universität Leipzig
 
Aus beck-fachdienst Medizinrecht 02/2023 vom 03.02.2022

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Sachverhalt  

Die Beklagte, eine Gesellschaft mit Sitz in den Niederlanden, wurde erstinstanzlich dazu verurteilt, die Werbung auf Facebook und in Werbe-Flyern für eine Kooperation ihrer Schwester- oder Muttergesellschaft, einer Versandapotheke, mit einem Telemedizinanbieter zu unterlassen. Die Werbung bezog sich u.a. auf das Durchführen von Videosprechstunden und ggf. den anschließenden elektronischen Versand eines E-Rezeptes. Der Kläger, ein Apothekenbetreiber, berief sich maßgeblich darauf, dass der Tatbestand einer unzulässigen Werbung für eine Fernbehandlung nach § 9 HWG durch die Beklagte erfüllt sei. Gegen die erstinstanzliche Entscheidung des LG Konstanz richtete sich die Berufung der Beklagten.

Sie begründete diese vorrangig damit, dass die streitgegenständliche Werbung nicht gegen § 9 HWG verstoße. Das LG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Werbende die Darlegungs- und Beweislast dafür trage, dass die von ihm beworbene Fernbehandlung den allgemein anerkannten fachlichen Standards entspreche. Weiterhin handele es sich bei § 9 Satz 2 HWG um eine Vorschrift zur Reichweite des in Satz 1 enthaltenen Verbots, weshalb die Partei die Darlegungs- und Beweislast für die Verletzung des Verbots nach § 9 Satz 1 HWG trage, die den Verstoß geltend mache.

Entscheidung

Das OLG bestätigte die Auffassung des LG und wies die Berufung zurück.

Das Gericht ordnete den Erlaubnistatbestand des § 9 Satz 2 HWG als Ausnahmetatbestand ein. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die beworbene Fernbehandlung den allgemeinen fachlichen Standards entspricht, liege bei der Beklagten. Vorliegend sei pauschal - und nicht auf bestimmte Krankheitsbilder beschränkt - für ärztliche Videosprechstunden geworben worden, vor allem zur Erlangung ärztlicher Rezepte. Die gegenständliche Werbung sei nicht auf Fernbehandlungen begrenzt gewesen, für die nach fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit der zu behandelnden Person nicht erforderlich ist. Die Werbung, welche über eine bloße Ankündigung einer Verkaufsförderungsmaßnahme hinaus gegangen sei, habe vielmehr den Eindruck erweckt, eine Videosprechstunde könne immer und nicht nur bei eng begrenzten Indikationen in Anspruch genommen werden. Eine Einschränkung hinsichtlich der Art der Fernbehandlung sei in der Werbung auf Facebook und im Werbeflyer nicht vorgenommen worden. Damit habe die Werbung gegen §§ 3, 3a UWG i.V.m. § 9 HWG verstoßen. Für die Zulässigkeit nach § 9 Satz 2 HWG hätte direkt in der Facebook-Anzeige und im Werbe-Fyler und nicht erst auf der Homepage ein Hinweis erfolgen müssen, dass die Videosprechstunde nur für Fernbehandlungen in Frage kommt, für die nach allgemeinen fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist. Hinsichtlich dieses fachlichen Standards sei auf den Maßstab des § 630a Abs. 2 BGB zurückzugreifen.

Praxishinweis

Die Entscheidung des OLG Karlsruhe ist im Ergebnis nicht überraschend, trägt jedoch noch einmal zu einer erheblichen Rechtssicherheit bei. Im Jahr 2022 hat bereits das OLG Köln klargestellt, dass den Werbenden die Darlegungs- und Beweislast dafür trifft, dass die beworbene umfassende Fernbehandlung den allgemeinen fachlichen Standards entspricht (OLG Köln, Urteil vom 10. Juni 2022 – I-6 U 204/2). Nunmehr setzt auch das OLG Karlsruhe diese Linie fort.

Das Gericht stellt klar, dass die Anwendung des Ausnahmetatbestandes in § 9 Satz 2 HWG kein alltäglicher Selbstläufer unter dem Deckmantel der Telemedizin sein kann, sondern - um gerade dem vom Gesetzgeber intendierten Ausnahmecharakter gerecht zu werden - einer jeweiligen individuellen Einzelfallprüfung bedarf. Konsequenterweise muss den jeweils Werbenden auch die Beweislast dafür treffen, dass der Ausnahmetatbestand tatsächlich gegeben ist. Denn in der Regel verfügt ja gerade der Anbieter der Fernbehandlung über das notwendige Wissen, ob in seinem konkreten Behandlungsangebot nach anerkannten fachlichen Standards eine persönliche Untersuchung entbehrlich sein kann. Die von der Beklagten im Verfahren geäußerte Rechtsauffassung - es sei die Partei darlegungs- und beweisbelastet, die die Verletzung des Verbots nach § 9 Satz 1 HWG geltend mache - würde zu einer übermäßigen Ausdehnung und zu einem Missbrauch des Ausnahmecharakters des § 9 HWG führen.

OLG Karlsruhe, Urteil vom 22.12.2022 - 4 U 262/22 (LG Konstanz), GRUR-RS 2022, 38533