Interview

„Co­ro­na stellt das Recht vor neue Fra­gen“
Interview
Schmidttt
picture alliance / dpa | Sebastian Kahnert
Schmidttt

Heute hat sie ihren letz­ten Ar­beits­tag: Am 30. Sep­tem­ber tritt die Prä­si­den­tin des Bun­des­ar­beits­ge­richts, In­grid Schmidt, alters­bedingt in den Ru­he­stand. Mit der ers­ten Frau an der Spit­ze des Er­fur­ter Ge­richts haben wir über Ar­beits­kämp­fe, die Pan­de­mie und die Lage der Ar­beits­ge­richts­bar­keit ge­spro­chen.

30. Sep 2021

NJW: Was waren die High­lights Ihrer Prä­si­dent­schaft?

Schmidt: Ich habe 16 Jahre lang High­lights ge­habt. (lacht) Ich be­trach­te meine rich­ter­li­che Be­fas­sung wirk­lich nicht unter die­sem Ge­sichts­punkt. Es gibt si­cher­lich Ver­fah­ren, die einen mehr for­dern – aber summa sum­ma­rum habe ich kein „best of“.

NJW: Nun hat ja die GdL ge­ra­de mehr­fach ge­streikt und führt of­fen­bar einen Macht­kampf gegen ihre Kon­kur­ren­tin EVG. So etwas woll­te die Po­li­tik ei­gent­lich mit dem Ta­rif­ein­heits­ge­setz von 2015 ver­hin­dern. Ist der Schuss nach hin­ten los­ge­gan­gen?

Schmidt: Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit die­sem Ge­setz, ge­nau­er mit der Vor­schrift des § 4a TVG, haben das Bun­des­ar­beits­ge­richt bis­her nicht er­reicht. Hier­über ent­schei­den müss­te der Vier­te Senat, der nach der Ge­schäfts­ver­tei­lung des Bun­des­ar­beits­ge­richts für das Ta­rif­recht zu­stän­dig ist. Zahl­rei­che ge­richt­li­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen sind oh­ne­hin nicht zu er­war­ten: Die Vor­schrift scheint ja von be­son­de­rem In­ter­es­se nur in den pri­va­ti­sier­ten Be­trie­ben des Ver­kehrs­sek­tors zu sein. Die an­dau­ern­den Kon­flik­te der Bahn mit den in ihren Be­trie­ben ver­tre­te­nen Ge­werk­schaf­ten haben den Ge­setz­ge­ber ja da­mals zum Han­deln ver­an­lasst. Her­aus­ge­kom­men ist eine Re­ge­lung, die den Test beim Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ge­ra­de so eben mit schwie­rig fest­zu­stel­len­den Ma­ß­ga­ben be­stan­den hat. Ob und wie diese Ma­ß­ga­ben zu er­fül­len sind, müss­ten jetzt die Ar­beits­ge­rich­te ent­schei­den. Ihnen ist hier eine große Ver­ant­wor­tung auf­ge­bür­det wor­den. Klar aus­ge­drückt hat sich das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt aber in zwei Punk­ten: Das Streik­recht der Min­der­heits­ge­werk­schaft bleibt un­an­ge­tas­tet; das Ver­drän­gungs­ri­si­ko kann kein Haf­tungs­ri­si­ko be­grün­den. Er­fah­rungs­ge­mäß er­lahmt aber mit dem Ende des Ar­beits­kamp­fes der Wis­sens­durst der Be­trof­fe­nen. Sie re­geln den Kon­flikt unter sich und nicht vor Ge­richt.

NJW: Soll­te der Ge­setz­ge­ber jetzt nach­bes­sern?

Schmidt: Was soll denn nach­ge­bes­sert wer­den? Tat­säch­lich geht es doch darum, das Ar­beits­kampf­recht zu re­geln. Dafür müs­sen sich aber erst­mal Po­li­ti­ker fin­den, die sich auf die­ses ver­min­te Feld be­ge­ben. Klei­nes Bei­spiel ist der Ruf nach der Vor­ga­be einer ge­setz­li­chen An­kün­di­gungs­frist:  Ich habe in den von mir ver­han­del­ten Ar­beits­kampf­ver­fah­ren vor mei­nem Senat sehr un­ter­schied­li­che Be­dürf­nis­se fest­ge­stellt. An­kün­di­gungs­fris­ten er­lau­ben es dem Ar­beit­ge­ber, sich auf die Fol­gen der Ar­beits­nie­der­le­gun­gen ein­zu­stel­len und damit die Streik­dy­na­mik ab­zu­fe­dern. Für den einen Ar­beit­ge­ber kann eine lange An­kün­di­gungs­frist güns­tig sein, für den an­de­ren eine kurze. Wel­che soll es also sein? Schon an die­ser ver­gleichs­wei­se ein­fa­chen Re­ge­lung schei­den sich die Geis­ter - kein Wun­der, dass der Ge­setz­ge­ber die Hände in den Schoß legt.

NJW: Wie steht denn die Ar­beits­ge­richts­bar­keit ins­ge­samt mo­men­tan da?

Schmidt: Die ist wirk­lich gut auf­ge­stellt. Das hat vor allem damit zu tun, dass sie ei­gen­stän­dig ist und da­durch ihr Spe­zia­lis­ten­wis­sen ef­fek­tiv und schnell ein­set­zen kann. Sie ist auch gut auf­ge­stellt, weil sie bei der Di­gi­ta­li­sie­rung der Jus­tiz eine Vor­rei­ter­rol­le ein­nimmt. Geht es um die vor­zei­ti­ge Ein­füh­rung des elek­tro­ni­schen Rechts­ver­kehrs, schi­cken die Lan­des­jus­tiz­ver­wal­tun­gen gerne die Ar­beits­ge­richts­bar­keit vor – wie etwa Baden-Würt­tem­berg und Schles­wig-Hol­stein ge­zeigt haben.

NJW: In der all­ge­mei­nen Zi­vil­ge­richts­bar­keit sind die Ein­gän­ge deut­lich rück­läu­fig. Bei Ihnen auch?

Schmidt: Hier ist das auch so. Eine der Ur­sa­chen ist na­tür­lich die an­hal­tend gute Kon­junk­tur. Bei funk­tio­nie­ren­der Wirt­schaft ist die Be­las­tung der Ar­beits­ge­richts­bar­keit ge­rin­ger. Dro­hen Ent­las­sun­gen und Ent­gelt­kür­zun­gen, steigt der Be­darf nach ar­beits­ge­richt­li­chem Rechts­schutz. In Zei­ten einer Hoch­kon­junk­tur fin­det sich leich­ter eine pas­sen­de An­schluss­be­schäf­ti­gung, blei­ben Ge­halts­zah­lun­gen nicht aus, zumal Ar­beit­ge­ber stär­ker auf For­de­run­gen der Ar­beit­neh­mer ein­ge­hen müs­sen, um über­haupt Be­schäf­tig­te zu be­kom­men.

NJW: In der Co­ro­na-Zeit ist Ho­me­of­fice zu einem gro­ßen Thema ge­wor­den. Auch für die Ar­beits­ge­rich­te?

Schmidt: Je­den­falls gibt es da keine Pro­zess­wel­le. Diese Fra­gen kann man auch gar nicht im Streit lösen. Der Ar­beit­ge­ber kann dem Ar­beit­neh­mer nicht vor­schrei­ben, im häus­li­chen Be­reich zu ar­bei­ten, und der kann das um­ge­kehrt auch nicht ver­lan­gen – es sei denn, man hat das von An­fang an so ver­ein­bart. Noch offen ist frei­lich: Wie weit geht das Wei­sungs­recht des Ar­beit­ge­bers nach § 106 GewO in und au­ßer­halb von Pan­de­mie­zei­ten? Das Ho­me­of­fice ist prin­zi­pi­ell eine sehr gute Mög­lich­keit, be­rech­tig­ten Be­dürf­nis­sen von Ar­beit­ge­bern und Ar­beit­neh­mern ent­ge­gen­zu­kom­men. Aber ich mache ein gro­ßes Fra­ge­zei­chen daran, ob mo­bi­les Ar­bei­ten, dort wo es über­haupt mög­lich ist, den Ar­beits­platz im Büro voll­stän­dig und dau­er­haft er­set­zen kann: Bei der Zu­sam­men­ar­beit geht nichts ohne per­sön­li­chen Kon­takt. Ich habe selbst als Dienst­vor­ge­setz­te die Er­fah­rung ge­macht, dass Ho­me­of­fice ge­ra­de im Lock­down eine Mög­lich­keit ist, den Ge­richts­be­trieb am Lau­fen zu hal­ten. Aber da­nach haben alle ge­sagt: Es ist auch wie­der sehr schön, im Ge­richt zu sein. Viele Be­schäf­tig­te zie­hen die Ar­beit im Büro auch des­we­gen vor, weil es ihnen dann leich­ter fällt, Beruf und Pri­va­tes zu tren­nen.

NJW: Viel Auf­merk­sam­keit hat das BAG kürz­lich mit einer Ent­schei­dung zum Crowd­wor­king er­hal­ten. Gibt es einen Trend dazu?

Schmidt: Der Ar­beit­neh­mer­be­griff des § 611a BGB ist sehr an­pas­sungs­fä­hig an tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen. Die Kunst be­steht darin, zu klä­ren: Was heißt Crowd­wor­king ei­gent­lich? Der Be­griff ist ja nicht ein­deu­tig und um­fasst viele Va­ri­an­ten. Her­aus­zu­fin­den ist, in­wie­weit die ein­zel­nen Cha­rak­te­ris­ti­ka der je­wei­li­gen Crowd­wor­ker-Va­ri­an­ten denen des Ar­beit­neh­mer­be­griffs des § 611a BGB ent­spre­chen. Je­den­falls bin ich op­ti­mis­tisch. Das der­zei­ti­ge Recht scheint noch hin­rei­chend kom­pa­ti­bel, um je­den­falls einen Gro­ß­teil der neuen Ar­beits­for­men zu er­fas­sen.

NJW: Was kommt sonst auf das BAG zu?

Schmidt: Sehr viele Pro­ble­me im Zu­sam­men­hang mit der Pan­de­mie sind lo­gi­scher­wei­se noch nicht be­ackert. Es hat sie in die­ser Form bis­her schlecht­hin noch nie ge­ge­ben. Bei­spiels­wei­se zum Ver­gü­tungs­an­spruch, An­nah­me­ver­zug und Lohn­ri­si­ko bei einer be­hörd­li­chen Schlie­ßungs­an­ord­nung. Muss der Ar­beit­ge­ber bei einer Qua­ran­tä­ne­an­ord­nung bei einem nicht ar­beits­un­fä­hig er­krank­ten Ar­beit­neh­mer den Lohn fort­zah­len und wel­che Er­stat­tungs­an­sprü­che hat er ge­gen­über dem Staat nach dem In­fek­ti­ons­schutz­ge­setz? Ist der Lohn bei einer Qua­ran­tä­ne­an­ord­nung fort­zu­zah­len, ob­wohl der Ar­beit­neh­mer be­wusst in einem Vi­rus­va­ri­an­ten­ge­biet oder Hoch­ri­si­ko­ge­biet Ur­laub ge­macht hat? Hat der Ar­beit­ge­ber einen Er­stat­tungs­an­spruch gegen das je­wei­li­ge Land auch für Ar­beit­neh­mer, die sich nicht imp­fen las­sen wol­len? Es geht also um das Zu­sam­men­spiel von So­zi­al­staats­prin­zip, das dem Ent­gelt­fort­zah­lungs­ge­setz zu­grun­de liegt, schuld­recht­li­chem Leis­tungs­stö­rungs­recht des BGB und der öf­fent­lich-recht­li­chen Ge­fah­ren­ab­wehr des In­fek­ti­ons­schutz­ge­set­zes. Die­ses gilt es aus­zu­lo­ten.

NJW: Stimmt es Sie ein biss­chen weh­mü­tig, bald daran nicht mehr von Er­furt aus mit­wir­ken zu kön­nen?

Schmidt: Nein. Die­ses Amt habe ich seit mehr als 16 Jah­ren, und ich bin seit 27 Jah­ren an die­sem Ge­richt. Wenn ich da das Ge­fühl hätte, ich hätte kei­nen ent­schei­den­den Bei­trag zur Fort­ent­wick­lung des Ar­beits­rechts leis­ten kön­nen und müss­te das jetzt noch tun, dann wäre ich trau­rig. Bin ich aber nicht. (lacht) Au­ßer­dem war ich schon immer eine An­hän­ge­rin ge­setz­li­cher Al­ters­gren­zen, denn das fort­schrei­ten­de Alter führt zu einer Ver­än­de­rung der Leis­tungs­fä­hig­keit – nicht un­be­dingt zum Ne­ga­ti­ven: Ei­ner­seits hat man mehr Er­fah­rungs­wis­sen, an­de­rer­seits ver­rin­gert sich die Be­last­bar­keit. Man macht aber den Weg frei für jün­ge­re, die ihre Chan­ce ver­die­nen, und ver­mei­det es, vom „Hof“ ge­tra­gen zu wer­den

NJW: Wie steht es denn mit einer an­schlie­ßen­den Tä­tig­keit als of Coun­sel?

Schmidt: Da­nach steht mir nicht der Sinn. Ich tauge nicht zur Brief­kopf­zier­de. Auch würde ich die Sche­re des rich­ter­li­chen In­ter­es­sen­aus­gleichs nicht aus mei­nem Kopf krie­gen. An­walt­li­che Tä­tig­keit wäre aber knall­har­te und häu­fig auch ein­sei­ti­ge In­ter­es­sen­ver­tre­tung.

NJW: Be­steht Ge­schlech­ter­ge­rech­tig­keit am BAG?

Schmidt: Als ich kam, war ich die ein­zi­ge Rich­te­rin. Und vor mir gab es in der gan­zen Ge­schich­te des Bun­des­ar­beits­ge­richts nur drei. Ich denke, ich habe ei­ni­ges dafür getan, dass sich das ge­än­dert hat: Beim rich­ter­li­chen Per­so­nal be­steht jetzt an­nä­hernd Pa­ri­tät. Aber ich kann Ihnen sagen: Mit der Ver­wen­dung des Gen­der­sterns auf der Home­page habe ich das nicht ge­schafft, son­dern durch eine in­ten­si­ve und kon­ti­nu­ier­li­che Über­zeu­gungs­leis­tung bei denen, die über Rich­ter­wah­len be­fin­den. Das Schaf­fen von Ge­schlech­ter­pa­ri­tät setzt al­ler­dings auch vor­aus, dass in den Län­dern hin­rei­chend Rich­te­rin­nen zur Ver­fü­gung ste­hen, die sich für die­ses Amt be­geis­tern. Daran haben die Län­der er­freu­li­cher­wei­se mit­ge­ar­bei­tet.

NJW: Und wo hakt es im Ge­richts­all­tag?

Schmidt: Ar­beits­ge­richts­bar­keit und Zi­vil­ge­richts­bar­keit tei­len sich ein Pro­blem, das der Mas­sen­ver­fah­ren. Beim BGH sind es die so­ge­nann­ten Die­sel­kla­gen, bei uns die Be­en­di­gungs­strei­tig­kei­ten aus An­lass von gro­ßen In­sol­ven­zen, wie zB von Air Ber­lin. Al­lein diese In­sol­venz be­scher­te dem Bun­des­ar­beits­ge­richt ca. 800 Ver­fah­ren. Ob­wohl es nur um die Klä­rung ei­ni­ger, sich aber in allen Fäl­len glei­cher­ma­ßen stel­len­der Rechts­fra­gen geht, wird durch die schie­re Zahl der Ver­fah­ren der Ge­schäfts­gang der be­trof­fe­nen Se­na­te blo­ckiert. Ab­hil­fe müss­te das Pro­zess­recht durch Re­ge­lung spe­zi­el­ler Aus­set­zungs­mög­lich­kei­ten schaf­fen. In die­ser Rich­tung denkt jetzt auch die Jus­tiz­mi­nis­ter­kon­fe­renz nach und prüft ein be­son­de­res Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­ren. Viel­leicht gibt es auch noch an­de­re Lö­sungs­mög­lich­kei­ten. Je­den­falls be­steht aku­ter Hand­lungs­be­darf, sol­len Re­vi­si­ons­ge­rich­te nicht durch sol­che Ver­fah­ren lahm­ge­legt und daran ge­hin­dert wer­den, zeit­nah ihre Auf­ga­ben zu er­fül­len.

In­grid Schmidt war seit 1985 als Rich­te­rin in der hes­si­schen So­zi­al­ge­richts­bar­keit tätig, zu­letzt am LSG ­Hessen. Zwi­schen­zeit­lich war sie als Wissenschaft­liche Mit­ar­bei­te­rin ans BVerfG ab­ge­ord­net. 1994 wurde sie zur Rich­te­rin am BAG er­nannt, 2002 zur Vor­sit­zen­den Rich­te­rin. Seit 2005 ist sie Prä­si­den­tin des BAG und zu­gleich Vor­sit­zen­de im für Ar­beits­kampf­recht zu­stän­di­gen Ers­ten Senat.

In­ter­view: Joa­chim Jahn