NJW: Was waren die Highlights Ihrer Präsidentschaft?
Schmidt: Ich habe 16 Jahre lang Highlights gehabt. (lacht) Ich betrachte meine richterliche Befassung wirklich nicht unter diesem Gesichtspunkt. Es gibt sicherlich Verfahren, die einen mehr fordern – aber summa summarum habe ich kein „best of“.
NJW: Nun hat ja die GdL gerade mehrfach gestreikt und führt offenbar einen Machtkampf gegen ihre Konkurrentin EVG. So etwas wollte die Politik eigentlich mit dem Tarifeinheitsgesetz von 2015 verhindern. Ist der Schuss nach hinten losgegangen?
Schmidt: Auseinandersetzungen mit diesem Gesetz, genauer mit der Vorschrift des § 4a TVG, haben das Bundesarbeitsgericht bisher nicht erreicht. Hierüber entscheiden müsste der Vierte Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Bundesarbeitsgerichts für das Tarifrecht zuständig ist. Zahlreiche gerichtliche Auseinandersetzungen sind ohnehin nicht zu erwarten: Die Vorschrift scheint ja von besonderem Interesse nur in den privatisierten Betrieben des Verkehrssektors zu sein. Die andauernden Konflikte der Bahn mit den in ihren Betrieben vertretenen Gewerkschaften haben den Gesetzgeber ja damals zum Handeln veranlasst. Herausgekommen ist eine Regelung, die den Test beim Bundesverfassungsgericht gerade so eben mit schwierig festzustellenden Maßgaben bestanden hat. Ob und wie diese Maßgaben zu erfüllen sind, müssten jetzt die Arbeitsgerichte entscheiden. Ihnen ist hier eine große Verantwortung aufgebürdet worden. Klar ausgedrückt hat sich das Bundesverfassungsgericht aber in zwei Punkten: Das Streikrecht der Minderheitsgewerkschaft bleibt unangetastet; das Verdrängungsrisiko kann kein Haftungsrisiko begründen. Erfahrungsgemäß erlahmt aber mit dem Ende des Arbeitskampfes der Wissensdurst der Betroffenen. Sie regeln den Konflikt unter sich und nicht vor Gericht.
NJW: Sollte der Gesetzgeber jetzt nachbessern?
Schmidt: Was soll denn nachgebessert werden? Tatsächlich geht es doch darum, das Arbeitskampfrecht zu regeln. Dafür müssen sich aber erstmal Politiker finden, die sich auf dieses verminte Feld begeben. Kleines Beispiel ist der Ruf nach der Vorgabe einer gesetzlichen Ankündigungsfrist: Ich habe in den von mir verhandelten Arbeitskampfverfahren vor meinem Senat sehr unterschiedliche Bedürfnisse festgestellt. Ankündigungsfristen erlauben es dem Arbeitgeber, sich auf die Folgen der Arbeitsniederlegungen einzustellen und damit die Streikdynamik abzufedern. Für den einen Arbeitgeber kann eine lange Ankündigungsfrist günstig sein, für den anderen eine kurze. Welche soll es also sein? Schon an dieser vergleichsweise einfachen Regelung scheiden sich die Geister - kein Wunder, dass der Gesetzgeber die Hände in den Schoß legt.
NJW: Wie steht denn die Arbeitsgerichtsbarkeit insgesamt momentan da?
Schmidt: Die ist wirklich gut aufgestellt. Das hat vor allem damit zu tun, dass sie eigenständig ist und dadurch ihr Spezialistenwissen effektiv und schnell einsetzen kann. Sie ist auch gut aufgestellt, weil sie bei der Digitalisierung der Justiz eine Vorreiterrolle einnimmt. Geht es um die vorzeitige Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs, schicken die Landesjustizverwaltungen gerne die Arbeitsgerichtsbarkeit vor – wie etwa Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein gezeigt haben.
NJW: In der allgemeinen Zivilgerichtsbarkeit sind die Eingänge deutlich rückläufig. Bei Ihnen auch?
Schmidt: Hier ist das auch so. Eine der Ursachen ist natürlich die anhaltend gute Konjunktur. Bei funktionierender Wirtschaft ist die Belastung der Arbeitsgerichtsbarkeit geringer. Drohen Entlassungen und Entgeltkürzungen, steigt der Bedarf nach arbeitsgerichtlichem Rechtsschutz. In Zeiten einer Hochkonjunktur findet sich leichter eine passende Anschlussbeschäftigung, bleiben Gehaltszahlungen nicht aus, zumal Arbeitgeber stärker auf Forderungen der Arbeitnehmer eingehen müssen, um überhaupt Beschäftigte zu bekommen.
NJW: In der Corona-Zeit ist Homeoffice zu einem großen Thema geworden. Auch für die Arbeitsgerichte?
Schmidt: Jedenfalls gibt es da keine Prozesswelle. Diese Fragen kann man auch gar nicht im Streit lösen. Der Arbeitgeber kann dem Arbeitnehmer nicht vorschreiben, im häuslichen Bereich zu arbeiten, und der kann das umgekehrt auch nicht verlangen – es sei denn, man hat das von Anfang an so vereinbart. Noch offen ist freilich: Wie weit geht das Weisungsrecht des Arbeitgebers nach § 106 GewO in und außerhalb von Pandemiezeiten? Das Homeoffice ist prinzipiell eine sehr gute Möglichkeit, berechtigten Bedürfnissen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern entgegenzukommen. Aber ich mache ein großes Fragezeichen daran, ob mobiles Arbeiten, dort wo es überhaupt möglich ist, den Arbeitsplatz im Büro vollständig und dauerhaft ersetzen kann: Bei der Zusammenarbeit geht nichts ohne persönlichen Kontakt. Ich habe selbst als Dienstvorgesetzte die Erfahrung gemacht, dass Homeoffice gerade im Lockdown eine Möglichkeit ist, den Gerichtsbetrieb am Laufen zu halten. Aber danach haben alle gesagt: Es ist auch wieder sehr schön, im Gericht zu sein. Viele Beschäftigte ziehen die Arbeit im Büro auch deswegen vor, weil es ihnen dann leichter fällt, Beruf und Privates zu trennen.
NJW: Viel Aufmerksamkeit hat das BAG kürzlich mit einer Entscheidung zum Crowdworking erhalten. Gibt es einen Trend dazu?
Schmidt: Der Arbeitnehmerbegriff des § 611a BGB ist sehr anpassungsfähig an technische Entwicklungen. Die Kunst besteht darin, zu klären: Was heißt Crowdworking eigentlich? Der Begriff ist ja nicht eindeutig und umfasst viele Varianten. Herauszufinden ist, inwieweit die einzelnen Charakteristika der jeweiligen Crowdworker-Varianten denen des Arbeitnehmerbegriffs des § 611a BGB entsprechen. Jedenfalls bin ich optimistisch. Das derzeitige Recht scheint noch hinreichend kompatibel, um jedenfalls einen Großteil der neuen Arbeitsformen zu erfassen.
NJW: Was kommt sonst auf das BAG zu?
Schmidt: Sehr viele Probleme im Zusammenhang mit der Pandemie sind logischerweise noch nicht beackert. Es hat sie in dieser Form bisher schlechthin noch nie gegeben. Beispielsweise zum Vergütungsanspruch, Annahmeverzug und Lohnrisiko bei einer behördlichen Schließungsanordnung. Muss der Arbeitgeber bei einer Quarantäneanordnung bei einem nicht arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer den Lohn fortzahlen und welche Erstattungsansprüche hat er gegenüber dem Staat nach dem Infektionsschutzgesetz? Ist der Lohn bei einer Quarantäneanordnung fortzuzahlen, obwohl der Arbeitnehmer bewusst in einem Virusvariantengebiet oder Hochrisikogebiet Urlaub gemacht hat? Hat der Arbeitgeber einen Erstattungsanspruch gegen das jeweilige Land auch für Arbeitnehmer, die sich nicht impfen lassen wollen? Es geht also um das Zusammenspiel von Sozialstaatsprinzip, das dem Entgeltfortzahlungsgesetz zugrunde liegt, schuldrechtlichem Leistungsstörungsrecht des BGB und der öffentlich-rechtlichen Gefahrenabwehr des Infektionsschutzgesetzes. Dieses gilt es auszuloten.
NJW: Stimmt es Sie ein bisschen wehmütig, bald daran nicht mehr von Erfurt aus mitwirken zu können?
Schmidt: Nein. Dieses Amt habe ich seit mehr als 16 Jahren, und ich bin seit 27 Jahren an diesem Gericht. Wenn ich da das Gefühl hätte, ich hätte keinen entscheidenden Beitrag zur Fortentwicklung des Arbeitsrechts leisten können und müsste das jetzt noch tun, dann wäre ich traurig. Bin ich aber nicht. (lacht) Außerdem war ich schon immer eine Anhängerin gesetzlicher Altersgrenzen, denn das fortschreitende Alter führt zu einer Veränderung der Leistungsfähigkeit – nicht unbedingt zum Negativen: Einerseits hat man mehr Erfahrungswissen, andererseits verringert sich die Belastbarkeit. Man macht aber den Weg frei für jüngere, die ihre Chance verdienen, und vermeidet es, vom „Hof“ getragen zu werden
NJW: Wie steht es denn mit einer anschließenden Tätigkeit als of Counsel?
Schmidt: Danach steht mir nicht der Sinn. Ich tauge nicht zur Briefkopfzierde. Auch würde ich die Schere des richterlichen Interessenausgleichs nicht aus meinem Kopf kriegen. Anwaltliche Tätigkeit wäre aber knallharte und häufig auch einseitige Interessenvertretung.
NJW: Besteht Geschlechtergerechtigkeit am BAG?
Schmidt: Als ich kam, war ich die einzige Richterin. Und vor mir gab es in der ganzen Geschichte des Bundesarbeitsgerichts nur drei. Ich denke, ich habe einiges dafür getan, dass sich das geändert hat: Beim richterlichen Personal besteht jetzt annähernd Parität. Aber ich kann Ihnen sagen: Mit der Verwendung des Gendersterns auf der Homepage habe ich das nicht geschafft, sondern durch eine intensive und kontinuierliche Überzeugungsleistung bei denen, die über Richterwahlen befinden. Das Schaffen von Geschlechterparität setzt allerdings auch voraus, dass in den Ländern hinreichend Richterinnen zur Verfügung stehen, die sich für dieses Amt begeistern. Daran haben die Länder erfreulicherweise mitgearbeitet.
NJW: Und wo hakt es im Gerichtsalltag?
Schmidt: Arbeitsgerichtsbarkeit und Zivilgerichtsbarkeit teilen sich ein Problem, das der Massenverfahren. Beim BGH sind es die sogenannten Dieselklagen, bei uns die Beendigungsstreitigkeiten aus Anlass von großen Insolvenzen, wie zB von Air Berlin. Allein diese Insolvenz bescherte dem Bundesarbeitsgericht ca. 800 Verfahren. Obwohl es nur um die Klärung einiger, sich aber in allen Fällen gleichermaßen stellender Rechtsfragen geht, wird durch die schiere Zahl der Verfahren der Geschäftsgang der betroffenen Senate blockiert. Abhilfe müsste das Prozessrecht durch Regelung spezieller Aussetzungsmöglichkeiten schaffen. In dieser Richtung denkt jetzt auch die Justizministerkonferenz nach und prüft ein besonderes Vorabentscheidungsverfahren. Vielleicht gibt es auch noch andere Lösungsmöglichkeiten. Jedenfalls besteht akuter Handlungsbedarf, sollen Revisionsgerichte nicht durch solche Verfahren lahmgelegt und daran gehindert werden, zeitnah ihre Aufgaben zu erfüllen.
Ingrid Schmidt war seit 1985 als Richterin in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit tätig, zuletzt am LSG Hessen. Zwischenzeitlich war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin ans BVerfG abgeordnet. 1994 wurde sie zur Richterin am BAG ernannt, 2002 zur Vorsitzenden Richterin. Seit 2005 ist sie Präsidentin des BAG und zugleich Vorsitzende im für Arbeitskampfrecht zuständigen Ersten Senat.Interview: Joachim Jahn