Interview
Corona-Krisenmanagement vor Gericht
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Ischgl gilt vielen als Inbegriff eines misslungenen Corona-Krisenmanagements. Mittlerweile sind die ersten Klagen gegen die Republik Österreich und das Land Tirol anhängig, mit denen erkrankte Urlauber Schadensersatz fordern. Im Interview mit Prof. Dr. Susanne Augenhofer von der Universität Innsbruck geht es um die Erfolgsaussichten der Klagen und allgemeine Amtshaftungsfragen rund um Corona.

Interview: Dr. Monika Spiekermann, 26. Okt 2020.

NJW: Im September sind beim Landgericht Wien vier Musterklagen eingereicht worden, mit denen Corona-Geschädigte Schadensersatz von der Republik Österreich und dem Land Tirol fordern. Um was für ein zivilprozessuales Instrument handelt es sich dabei?

Augenhofer: Die Frage ist insofern schnell beantwortet, da es sich bei den vier Klagen um keine Musterklagen im zivilprozessualen Sinne handelt, sondern um vier Individualverfahren von Personen, die sich mit ­Corona infiziert haben. Diesen ist jedoch gemeinsam, dass sie alle vom Verbraucherschutzverein rechtlich beraten werden. Medienberichten ist zu entnehmen, dass der Verein rund 6.000 Geschädigte vertritt. De facto wird diesen Klagen aber doch die Funktion von Musterprozessen zukommen: Sollten sie erfolgreich sein, wird das andere Geschädigte bestärken, ebenfalls Klage zu erheben bzw. einen Präzedenzfall schaffen, der den Verbraucherschutzverein unter Umständen in die Lage versetzt, mit der Republik Österreich und dem Land Tirol Vergleichsverhandlungen zu führen. Das gilt unter der Prämisse, dass die bis dahin noch nicht geltend gemachten Ansprüche noch nicht verjährt sind, wobei die Verjährungsfrist drei Jahre ab Kenntnis beträgt. Bei ­aller Skepsis, die ich gegenüber der deutschen Musterfeststellungsklage hege, ist es doch als großer Vorteil zu sehen, dass die Erhebung der Musterfeststellungsklage die Verjährung der Ansprüche der angemeldeten Verbraucher nach § 608 ZPO iVm § 204 I lit. 1a BGB hemmt und das Feststellungsurteil bei Identität von Lebenssachverhalt und Feststellungszielen bindend ist.

NJW: Für wie aussichtsreich halten Sie diese Klagen?

Augenhofer: Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen, wie es so schön heißt. Ebenso unklar ist der Ausgang der anhängigen Prozesse, zumal der zugrunde liegende Sachverhalt sich bei allen Geschädigten anders gestaltet. Auch andere Prozesse in Österreich, die Massenschädigungen zum Gegenstand hatten (Kaprun, Listerien), wecken keine guten Erinnerungen, obwohl durch die Sammelklage österreichischer Prägung im Bereich des Verbraucherrechts durchaus Erfolge bei der Rechtsdurchsetzung erreicht werden. Grundsätzlich gilt auch im Amtshaftungsprozess, der in Österreich im Amtshaftungsgesetz geregelt ist, auf den aber die Vorschriften des allgemeinen Schadensersatzrechts Anwendung finden, § 1311 I ABGB: casum sentit dominus. Das heißt: „Der bloße Zufall trifft denjenigen, in dessen Vermögen oder Person er sich ereignet.“ Es müssen Zurechnungsgründe vorliegen, um von diesem Prinzip abzuweichen. Diese wären: Schaden, Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden. Die Herausforderung wird wohl beim Nachweis – die Beweislast trifft auch im Amtshaftungsprozess den Geschädigten – der Kausalität liegen. Hier könnte in einigen Fallkonstellationen das Rechtsinstitut der alternativen Kausalität zu bemühen sein, auch bei allfälligen späteren Schadensersatzansprüchen gegen Ischgler Unternehmen, insbesondere wenn unklar ist, ob sich jemand im Hotel, auf der Gondel oder in der Bar angesteckt hat. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Prüfung des Schadensersatzanspruchs für jeden Einzelfall gesondert zu erfolgen hat, etwa auch im Hinblick auf die Art des geltend gemachten Schadens.

NJW: Müssen Bund und Länder in Deutschland nun mit vergleichbaren Amtshaftungsklagen wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Pflichtverletzungen im Kampf gegen Corona rechnen?

Augenhofer: Nein, das denke ich nicht. Der Corona-Hotspot-Fall in Deutschland, der am ehesten mit Ischgl zu vergleichen ist, war eine Karnevalsveranstaltung im Kreis Heinsberg. Dieser hat Mitte Februar stattgefunden. Zu diesem Zeitpunkt war der Wissensstand zu Corona ein anderer als Anfang März in Ischgl. Zudem war beim betreffenden Karneval, soweit ersichtlich, nicht bekannt, dass sich eine infizierte Person unter den feiernden Karnevalisten befand. In Ischgl hingegen haben die zuständigen Behörden nach den vorliegenden Informationen nicht reagiert, selbst als bekannt war, dass beispielweise Personal positiv getestet wurde und aus Ischgl nach Island zurückgekehrte Urlauber mit dem Virus infiziert waren.

NJW: Zu Beginn der Pandemie wusste man so gut wie nichts über das neuartige Virus. Wie wirkt sich dies sowie der Umstand, dass Bund und Länder bei ihrem Krisenmanagement sachverständig beraten wurden, auf die Haftung wegen etwaiger Amtspflichtverletzungen aus?

Augenhofer: Die Corona-Krise hat sicherlich alle überrascht, und das Wissen über Covid-19 hat sich geändert und entwickelt sich ständig weiter. Im Fall von Ischgl ändert meines Erachtens der variable Wissensstand jedoch grundsätzlich nichts an einer etwaigen Amtspflichtverletzung: Jedenfalls am 7.3.2020, als der Barkeeper der Bar „Kitzloch“ positiv getestet wurde, war das Risiko von Covid-19 bekannt. Mir ist dieses Datum selbst prägnant in Erinnerung, da ich am Tag davor aus New York zurück nach Deutschland geflogen bin und nach der Landung am Flughafen Frankfurt aufgrund eines Verdachtsfalls an Bord das Flugzeug längere Zeit nicht verlassen konnte. Es war allen Passagieren und der Besatzung völlig klar, dass wir in Quarantäne müssen, sollte sich der Verdachtsfall bestätigen. Diesen Wissensstand der Besatzung und der Passagiere kann man auch in Österreich voraussetzen. Meines Erachtens geht es im Fall Ischgl nicht um einen Mangel an Wissen, sondern um das Unterlassen der angebrachten Reaktion trotz entsprechenden Wissens. Der Bericht der Expertenkommission, der am 12.10. vorgestellt wurde, weist übrigens darauf hin, dass der infizierte Barkeeper eigentlich ein Kellner war, aber als Barkeeper bezeichnet wurde, da diese Tätigkeit mit weniger Kontakt zu den Gästen verbunden ist.

NJW: Wie bewerten Sie das Amtshaftungsrisiko, wenn sich eine behördlich genehmigte Großveranstaltung mit Risikopotenzial – etwa Bundesligaspiele oder Weihnachtsmärkte – zu einem Corona-Hotspot entwickelt?

Augenhofer: Ein solches Risiko erscheint mir eher gering: Aufgrund der intensiven Berichterstattung über die hohe Ansteckungsgefahr von Covid-19 seit Beginn der Pandemie ist auch der Wissensstand der Bevölkerung nicht mehr mit jenem im Zeitpunkt von Ischgl zu vergleichen. Es ist zurzeit wohl allgemein anerkannter Wissensstand, dass eine Ansteckung auch durch ein durchdachtes Hygienekonzept nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Dementsprechend ist auch die Eigenverantwortung der Bevölkerung gefordert, insbesondere da es sich bei Weihnachtsmärkten oder Sportereignissen nicht um lebensnotwendige Aktivitäten handelt. Anders würde es aber etwa aussehen, wenn Bund oder Länder einen Weihnachtsmarkt behördlich genehmigen, dann aber die Einhaltung der Auflagen nicht kontrollieren würden. Es wird immer auf den Einzelfall ankommen.

NJW: Wo verläuft in solchen Fällen die Grenze zwischen eigenverantwortlicher Selbstgefährdung und Fremdgefährdung durch Behörden?

Augenhofer: Die Genehmigung von bestimmten Sportveranstaltungen oder von Weihnachtsmärkten kann nicht als Aussage der Behörde gewertet werden, dass die Teilnahme bzw. der Besuch daran risikolos erfolgen kann. Vielmehr kann bei einem im Oktober 2020 vorherrschenden Wissensstand von einer eigenverantwortlichen Teilnahme an solchen Events ausgegangen werden. Es ist außerdem zu beachten, dass auch im Bereich des Amts- bzw. Staatshaftungsrechts der Grundsatz des Mitverschuldens gilt (§ 1304 ABGB bzw. § 254 BGB). Etwas anderes kann wiederum dann gelten, wenn den Behörden Informationen vorliegen, die der einzelne potenzielle Teilnehmer nicht besitzt. •

Prof. Dr. Susanne Augenhofer, LL.M. (Yale), forscht und lehrt an der Universität Innsbruck (Institut für Unternehmens- und Steuerrecht).