Kolumne
Bundes-Notbremse – „Missbrauch wird bestraft“
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© Nicola Quarz

Die Notbremse ist installiert. Mit der Abmilderung der Ausgangssperre zumindest für den nur schwach zum Infektionsgeschehen beitragenden abendlichen Spaziergänger wurde im Gesetzgebungsverfahren diese evidente Unverhältnismäßigkeit immerhin beseitigt – andere nicht.

28. Apr 2021

Mit der gesetzlichen Installation der Notbremse wurde einem fundamentalen Anliegen des demokratischen Rechtsstaats Rechnung getragen, dem des Parlamentsvorbehalts in Grundrechtsfragen – jedoch spät und vor allem lückenhaft. Das Gesetz entfaltet keine die Exekutivmacht begrenzende Funktion, ermächtigt sie im Gegenteil zu noch weitergehenden Eingriffen. Dies relativiert den Gewinn an demokratischer Legitimation, der darin liegt, dass es hier nicht mehr grundgesetzlich nicht vorgesehene Gremien waren, sondern der Bundestag, der über Maßnahmen entschieden hat, die bisher auf schmaler gesetzlicher Legitimationsgrundlage im Verordnungswege geregelt wurden.

Eben dies aber bezeichnet einen wesentlichen Schwachpunkt des Notbremsengesetzes: Es gießt lediglich eben die Inhalte in Gesetzesform, über die bisher im Verordnungswege entschieden wurde. Es operiert weiterhin sehr grob mit dem Inzidenzwert als alleinigem, zudem nicht mit der gebotenen Rechtssicherheit feststellbaren Kriterium. Sein Instrumentarium ist, entsprechend seiner Zielrichtung, ausschließlich auf die Eindämmung des infektiösen Geschehens vor allem im Wege herkömmlicher Maßnahmen der Seuchenbekämpfung ausgerichtet,
nicht aber auf die Bewältigung einer umfassenden, alle Bereiche des individuellen wie des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens erfassenden Krise. Hier sind komplexe Abwägungsentscheidungen gefordert, die auch die individualgrundrechtlichen wie gesellschaftlichen „Kollateralschäden“ einbeziehen müssen. Hier die kollidierenden Rechtsgüter umfassend zu bewerten und in die Abwägung einzustellen, ist Sache des Gesetzgebers; die gesetzesvollziehende Exekutive kann dies nicht leisten. Es sind dies grundsätzliche Fragen der Risikobewertung in einer Krisensituation, der Wertigkeit grundrechtlicher Schutzgüter, des immer wieder neu auszutarierenden Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit, gerade in Krisenlagen, die den Ruf nach Sicherheit befördern. So bedeutet das „Notbremsengesetz“ in der Sache vor allem eine Fortschreibung der bisherigen exekutivlastigen und eindimensional ausgerichteten, eine Kultur der Angst befördernden Pandemiepolitik. Dass die Notbremse im Eilverfahren durch das parlamentarische Verfahren geschleust werden musste, mag der aktuellen Lage geschuldet sein, nachdem es versäumt worden war, rechtzeitig ein kohärentes Konzept der Krisenbewältigung auf der Grundlage valider Erkenntnisse zu entwickeln. Außergewöhnliche Lagen, so ein gängiges Narrativ, mögen außergewöhnliche, unkonventionelle Maßnahmen erfordern. Sie dürfen nicht, wie so oft, zu Standardmaßnahmen mutieren. Krisen verleiten zu Grenzüberschreitungen. Für Notbremsen jeglicher Art aber gilt: „Jeder Missbrauch wird bestraft.“ •

Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Professor für Staats- und Verfassungsrecht sowie Medienrecht an der Universität Leipzig.