Anmerkung von
Rechtsanwalt Martin Schafhausen, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 13/2020 vom 17.07.2020
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Sachverhalt
Ein kurzer Lebenssachverhalt, den der Zweite Senat des BSG zum Anlass nimmt – die Entscheidung ist zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen – noch einmal grundsätzlich die Leitlinien aufzuzeigen, nach denen zu beurteilen ist, wann bei Unfällen, die sich zwischen Wohnort und Arbeitsstelle ereignen, die gesetzliche Unfallversicherung zur Leistung verpflichtet ist.
Die Klägerin stürzt nach dem Tanken auf dem Gelände einer Tankstelle. Der Weg zur Arbeitsstätte beträgt ca. 75 km. Als sie nach der Arbeit den Motor ihres Kfz startete, ertönte erstmalig ein Tank-Warngeräusch und die Tankanzeige leuchtete auf; mit der Reservemenge an Kraftstoff ergab sich eine Reichweite von nur noch 70 km.
Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg.
Entscheidung
Auch der Unfallsenat des Bundessozialgerichts bestätigt die Entscheidungen der beklagten Berufsgenossenschaft und der Vordergerichte. Die Klägerin habe keinen Arbeitsunfall erlitten als sie nach dem Tankvorgang stürzte, da das Auftanken eines PKW grundsätzlich nicht unter dem Schutz der Wegeunfallversicherung des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII stehe.
Das Tanken habe nicht in einem sachlichen Zusammenhang mit der Beschäftigung der Klägerin gestanden, insbesondere habe sich der Unfall nicht auf einem Betriebsweg ereignet, der Teil der versicherten Tätigkeit sei. Die Klägerin habe die Fahrt nach Ende der Arbeitszeit angetreten, um nach Hause zu kommen.
Das Tanken stehe aber auch nicht in einem inneren Zusammenhang mit dem Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges von dem Ort der Tätigkeit (Wegeunfall, § 8 Abs: 2 Nr. 1 SGB VII). Die Klägerin habe diesen Weg durch den Tankvorgang mehr als nur geringfügig unterbrochen. Nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII sei versichert das Zurücklegen des Weges, der durch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt begrenzt sei. Erforderlich sei ein sachlicher Zusammenhang des unfallbringenden Weges mit der versicherten Tätigkeit. Versichert sei – man ist geneigt ein „nur“ anzufügen – in der gesetzlichen Unfallversicherung als Vorbereitungshandlung der eigentlichen Tätigkeit das mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängende Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Versicherungsschutz bestehe, wenn der Weg erkennbar zu dem Zweck zurückgelegt werde, den Ort der Tätigkeit - oder nach deren Beendigung im typischen Fall die eigene Wohnung - zu erreichen. Maßgebliches Kriterium für den sachlichen Zusammenhang sei dabei, ob die anhand objektiver Umstände zu beurteilende Handlungstendenz des Versicherten beim Zurücklegen des Weges darauf gerichtet sei, eine dem Beschäftigungsunternehmen dienende Verrichtung auszuüben, d.h. ob sein Handeln auf das Zurücklegen des direkten Weges zu oder von der Arbeitsstätte gerichtet sei.
Auf einem solchen Wege habe sich die Klägerin zunächst befunden. Diesen habe sie dann aber „durch die dem Tanken dienenden Handlungen“ verlassen. Dabei habe es sich um eine rein privatwirtschaftliche Verrichtung gehandelt, die nicht mehr unter dem Schutz der Wegeunfallversicherung stehe.
Der Senat gibt ausdrücklich ältere Rspr. auf in der noch vertreten worden war, dass Versicherungsschutz bestehe, wenn das Betanken zur Beendigung des gerade angetretenen Weges notwendig war. Während § 550 Abs. 1 RVO noch den „Weg“ nach und von dem Ort der Tätigkeit geschützt habe, sei § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII (unmittelbarer Weg) enger gefasst. Das verbrauchsbedingte Auftanken treffe jeden Fahrer. Beim Tanken handele es sich um eine Vorbereitungshandlung, die dem privaten Lebensbereich der Versicherten zuzurechnen sei. Ausnahmen bestünden nur, wenn ein besonders enger sachlicher, örtlicher und zeitlicher Bezug zur versicherten Tätigkeit gegeben ist, der die Vorbereitungshandlung nach den Gesamtumständen selbst bereits als Bestandteil der versicherten Tätigkeit erscheinen lässt (verneint bei Sturz auf der Fahrbahn, die betreten worden war, um zu prüfen, ob die Straße eisglatt ist, BSG BeckRS 2018, 5330 mit kritischer Anmerkung Plagemann FD-SozVR 2018, 406828).
Diese Beschränkung des Versicherungsschutzes trage den Vorgaben des Gesetzes wie der Systematik des § 8 Abs. 2 SGB VII Rechnung. Der Gesetzgeber halte über den Schutzbedarf der eigentlichen beruflichen Tätigkeit hinaus gewisse, aber eben ausdrücklich genannte Vorbereitungshandlungen für schutzbedürftig. Das Haftungsrisiko des Unternehmers werde ausgedehnt, obwohl sie zu präventiven Maßnahmen nur eingeschränkt in der Lage seien. Auf die Notwendigkeit des Auftankens, um den Weg zur oder von der Arbeitsstätte zurücklegen zu können, hänge von zahlreichen Umständen des Einzelfalles ab, auf die es nicht ankommen könne. Auch ergäben sich Wertungswiedersprüche, da der vorausschauende Fahrer, die vorausschauende Fahrerin nicht unter dem Schutz der Unfallversicherung stünden, die Nichtvorausschauenden aber sehr wohl.
Die Unterbrechung des versicherten Weges sei auch mehr als nur geringfügig gewesen, da das Tanken, das schon mit dem Abbiegevorgang auf die Tankstelle begonnen habe, eine eigenständige, von Dritten beobachtbare Handlungssequenz darstelle, die eine Zäsur in Zurücklegen des versicherten Weges darstelle.
Praxishinweis
1. Obwohl der dieser Entscheidung zugrundeliegende Lebenssachverhalt zurecht nicht zum Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung führt, ist es nötig, die grundsätzlichen Ausführungen des Zweiten Senats kritisch zu begleiten. Schwierigkeiten etwa, die Umstände eines unfallversicherungsrechtlichen Sachverhalts vollständig zu erfassen, dürfen nicht dazu führen, Verwaltungsentscheidungen auf einer Abstraktionsebene zu treffen, die die Besonderheiten des Einzelfalles ausblenden. Rechtsprechung wie Verwaltung entfernen sich immer weiter von dem Erlenkämperischen Grundsatz, jeder sei so versichert, wie er am Erwerbsleben teilnehme. Kaum mehr vermittelbar ist, dass das Herausklettern aus der Wohnung durch ein Fenster im ersten Stock des Gebäudes bei verschlossener und nicht zu öffnender Wohnungstür versicherter Wegeunfall sein soll (BSG, FD-SozVR 2018, 402006 m. Anm. Plagemann).
2. Gleichzeitig wird auch in dieser Entscheidung ein Lebenssachverhalt, der als einheitliches Geschehen wahrgenommen wird, in Einzelschritte gestückelt. Dies ist bedenklich, wenn eine solche Betrachtung zu einer Verkürzung des Wegeunfallschutzes führt. Darauf abzustellen, dass keine geringfügige Unterbrechung vorliege, da das Tanken gegenüber dem Autofahren eine eigenständige, von Dritten wahrnehmbare Handlungssequenz darstelle, lässt kaum Unterbrechungen zu, die nicht von Dritten als eigene Handlungssequenz wahrnehmbar wären. So wird auch ein Schlenker, um einem Hindernis auszuweichen, einem Kind, das über die Straße läuft, einem Gegenstand, der das Fortkommen gefährdet, der aufmerksamen Fahrerin in dem nachfolgenden Fahrzeug nicht entgehen. Soll dadurch der Wegeunfallversicherungsschutz entfallen, entfernt sich der Fahrer des ausweichenden Fahrzeugs tatsächlich so weit von dem versicherten Wege, dass der von dem Gesetzgeber gewollte Zweck dieses Ausnahmetatbestandes in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr angenommen werden kann? Die Frage lässt sich im eigentlichen, wie auch übertragenen Sinne, nur verneinen.
3. Das LSG Nordrhein-Westfalen hat mit Beschluss v. 02.03.2020 (BeckRS 2020, 13830) die Klage eines Verletzten abgewiesen, der nach einem (Wege-)Unfall beim Streit mit dem Unfallgegner darüber, wer die Schuld an dem Ereignis trägt, zu Schaden kam. Die Regulierung nach dem (Wege-) Unfall ist Privatsache.
BSG, Urteil vom 30.01.2020 - B 2 U 9/18 R, BeckRS 2020, 8223