Urteilsanalyse
Böswilliges Unterlassen anderweitigen Erwerbs im Annahmeverzugszeitraum
Urteilsanalyse
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Der Arbeitgeber hat - so das LAG Berlin-Brandenburg - gegen den auf Annahmeverzugslohn klagenden Arbeitnehmer einen Auskunftsanspruch nach § 242 BGB über etwaige Vermittlungsvorschläge der Agentur für Arbeit und des Jobcenters unter Nennung von Tätigkeit, Arbeitszeit, Arbeitsort und Vergütung. Quantität und Qualität der Bewerbungsbemühungen des Arbeitnehmers können als Indizien für ein böswilliges Unterlassen herangezogen werden.

14. Apr 2023

Anmerkung von
RA Dr. Jens Günther, Gleiss Lutz, München

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 13/2022 vom 06.04.2023

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Sachverhalt

Die Parteien streiten im Nachgang zu rechtskräftig abgeschlossenen Kündigungsschutzverfahren u.a. über Annahmeverzugslohnansprüche. Der seit 2000 bei der beklagten Versicherung beschäftigte Kläger hat sich gegen mehrere Kündigungen, die er am 5.5.2017 und am 19.6.2019 erhalten hatte, erfolgreich gerichtlich gewehrt.

Der während des Kündigungsrechtsstreits weitgehend freigestellte Kläger verfolgt nunmehr u.a. Annahmeverzugslohnansprüche für den Zeitraum Mai 2017 bis April 2021. Zwischenverdienst erzielte der Kläger in dieser Zeit nicht. Im Arbeitsvertrag des Klägers ist die Anwendung der Tarifverträge für die private Versicherungswirtschaft vereinbart. Die Beklagte ist den Annahmeverzugslohnansprüchen mit dem Einwand böswilligen Unterlassens anderweitigen Verdienstes entgegengetreten. Sie machte einen Auskunftsanspruch gegen den Kläger über dessen Bewerbungsbemühungen geltend und rügte sodann Anzahl sowie Qualität der Bewerbungen. Das ArbG hat die Klage des Arbeitnehmers überwiegend abgewiesen.

Entscheidung

Die Berufung blieb weitgehend ohne Erfolg. Laut dem LAG habe der Kläger zwar dem Grunde nach einen Annahmeverzugslohnanspruch gemäß §§ 611a, 615 BGB. Der Anspruch des Klägers belaufe sich jedoch wegen böswilligen Unterlassens der Annahme zumutbarer Arbeit auf null, § 11 Nr. 2 KSchG, § 615 S. 2 BGB. Die Darlegungs- und Beweislast für den Einwand böswilligen Unterlassens liege grundsätzlich nach § 11 Nr. 2 KSchG und § 615 S. 2 BGB bei der Beklagten, aber den Kläger treffe eine sekundäre Darlegungslast. In diesem Zusammenhang habe die Beklagte einen Auskunftsanspruch gemäß § 242 BGB gegen den Kläger über die ihm von der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter unterbreiteten Vermittlungsvorschläge. Nur wenn die Beklagte von den konkreten Vermittlungsvorschlägen Kenntnis habe, sei sie in der Lage, Indizien für die Zumutbarkeit der Arbeit und eine mögliche Böswilligkeit des Unterlassens anderweitigen Verdienstes vorzutragen. In Erfüllung dieser Auskunftspflicht habe der Kläger die Beklagte über erhaltene Vermittlungsvorschläge sowie darüberhinausgehende eigene Bewerbungsbemühungen informiert. Jedoch habe die Beklagte auf Grundlage dieser erteilten Auskunft Indizien anführen können, aus denen sich ein böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes ergebe. So lasse die Auskunft des Klägers erkennen, dass dieser sich lediglich auf drei von 23 Vermittlungsvorschlägen beworben habe. Eigeninitiativ habe der Kläger zwar 103 weitere Bewerbungen versandt, dies entspreche aber noch nicht einmal einer Bewerbung pro Woche. Das LAG fordert insoweit Bewerbungsbemühungen „im zeitlichen Umfang einer Vollzeitstelle“. Ein weiteres Indiz für die Böswilligkeit liege in der mangelnden Qualität der verfassten Bewerbungen, weil die Anschreiben etwa fehlerhaft waren und ohne individualisierte Anrede erfolgten.

Praxishinweis

Auf Grundlage der neueren Rechtsprechung des BAG (siehe BAG, FD-ArbR 2020, 431371) spricht das LAG Berlin-Brandenburg der Arbeitgeberin nicht nur einen Auskunftsanspruch gegen den Arbeitnehmer über erhaltene Vermittlungsvorschläge zu, sondern entwickelt die Rechtsprechung weiter, indem es für den Einwand böswilligen Unterlassens Qualität und Quantität der Bewerbungen heranzieht. Bemerkenswert ist dabei auch, dass das LAG davon auszugeht, der Kläger hätte bei hinreichenden Bewerbungsanstrengungen eine Anstellung gefunden, die wieder nach dem Tarifvertrag der Versicherungswirtschaft und damit gleich hoch wie bei der Beklagten vergütet worden wäre. Folgerichtig gelangt das LAG zur Kürzung des Lohnanspruchs auf null.

Die bisher gängige Praxis, wonach der Arbeitnehmer den im Falle der Unwirksamkeit der Kündigung sicher geglaubten Annahmeverzugslohnanspruch als Hebel nutzt, um den Arbeitgeber zu einer hohen Abfindungszahlung zu bewegen, gerät dadurch ins Wanken. Wenngleich es sich bei dem Urteil des LAG bisher nur um eine Einzelentscheidung handelt, gibt es Anzeichen dafür, dass die Rechtsprechung zum Annahmeverzugslohn insgesamt restriktiver wird (vgl. jüngst ArbG Stuttgart, BeckRS 2023, 3241).

LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30.09.2022 - 6 Sa 280/22 (ArbG Berlin), BeckRS 2022, 37919