Urteilsanalyse
Bloße Vermutungen rechtfertigen keine Durchsuchung einer Privatwohnung
Urteilsanalyse
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Notwendiger, aber auch in Anbetracht der Eingriffsintensität einer Wohnungsdurchsuchung hinreichender Anlass für eine Durchsuchung ist der Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Das Gewicht des Eingriffs verlangt auf konkreten Tatsachen beruhende Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Eine Durchsuchung darf somit nach Ansicht des BVerfG nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.

26. Sep 2022

Anmerkung von Rechtsanwalt Thomas C. Knierim, Knierim & Kollegen, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 19/2022 vom 22.09.2022

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Sachverhalt

Die StA ermittelte gegen den anderweitig verfolgten R, den Inhaber eines Restaurants, wegen des Verdachts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Die mit den Ermittlungen betrauten Beamten der Kriminalpolizei gingen davon aus, dass er Fahrten zur Ablieferung von Betäubungsmitteln als Fahrten zur Auslieferung von bestelltem Essen tarnte. Das von ihm genutzte Fahrzeug wurde observiert und dabei festgestellt, dass dieses in zwei Nächten am 9.11.2018 und am 21.11.2018 gegenüber der abgelegenen Wohnanschrift des Beschwerdeführers B geparkt wurde, mutmaßlich zur Auslieferung von Betäubungsmitteln. Gegen den B sei in der Vergangenheit außerdem schon mehrfach wegen Betäubungsmitteldelikten ermittelt worden.

Auf Antrag der StA ordnete das AG nach § 102 StPO mit Beschluss vom 14.12.2018 die Durchsuchung der Wohnung des B an. Die Durchsuchungsanordnung wurde mit den bisherigen Ermittlungen, insbesondere den Erkenntnissen aus einer TKÜ im Verfahren gegen den gesondert verfolgten B, den Angaben einer Vertrauensperson der StA und den Erkenntnissen aus der Observation des B begründet. Nachweise für solche Erkenntnisse führte die StA aber nicht in der Akte des Verfahrens gegen B, sondern nur in der Verfahrensakte gegen R. Es bestehe der Verdacht, dass dieser seit November 2017 von seiner Wohnung und dem von ihm geführten Restaurant aus einen Handel mit Kokain, Amphetaminen und Marihuana in nicht geringer Menge betreibe. Der B habe von dem Betäubungsmittelhandel des R gewusst und spätestens seit November 2018 auf seinem Anwesen noch nicht abschließend ermittelte Betäubungsmittel für diesen aufbewahrt, um ihn bei dessen Taten zu unterstützen. Dies sei strafbar als Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Die angeordnete Maßnahme stehe in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat und zur Stärke des Tatverdachts und sei für die Ermittlungen notwendig.

Die anschließend durchgeführte Durchsuchung blieb weitgehend erfolglos, die StA stellte das Ermittlungsverfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO ein. Der Beschwerde des B gegen den Durchsuchungsbeschluss half das AG nicht ab, das LG wies die Beschwerde nach Beiziehung der Akten gegen R zurück. Die Verfassungsbeschwerde gegen beide Entscheidungen wegen Verletzung der Wohnung hatte Erfolg.

Entscheidung

Die zulässige Verfassungsbeschwerde sei offensichtlich begründet.

Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG. In diese grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre greife eine Durchsuchung schwerwiegend ein. Notwendiger, aber auch in Anbetracht der Eingriffsintensität einer Wohnungsdurchsuchung hinreichender Anlass für eine Durchsuchung sei der Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Das Gewicht des Eingriffs verlange auf konkreten Tatsachen beruhende Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Eine Durchsuchung dürfe somit nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich seien.

Zwar sei eine ins einzelne gehende Nachprüfung des von den Fachgerichten angenommenen Verdachts nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Sein Eingreifen sei allerdings geboten, wenn die Auslegung und Anwendung der einfachrechtlichen Bestimmungen über die prozessualen Voraussetzungen des Verdachts (§ 152 Abs. 2, § 160 Abs. 1 StPO) als Anlass für die strafprozessuale Zwangsmaßnahme und die strafrechtliche Bewertung der Verdachtsgründe objektiv willkürlich sind oder Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der Grundrechte des Beschwerdeführers beruhten. So läge der Fall hier.

Das AG habe den Tatvorwurf im Durchsuchungsbeschluss dahingehend konkretisiert, dass der Beschwerdeführer verdächtig sei, Betäubungsmittel für R im Wissen um dessen Betäubungsmittelhandel aufbewahrt zu haben, um ihn bei diesem zu unterstützen. Das LG habe daran anknüpfend ausgeführt, dass die Unterstützungshandlung in der Aufbewahrung größerer Drogenmengen habe liegen können. Die Annahme eines Tatverdachts hinsichtlich einer solchen Unterstützungshandlung sei indessen von Verfassungs wegen nicht haltbar. Die Beschlüsse des AG und des LG legten keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür dar, dass der B Betäubungsmittel für R aufbewahrt hätte. Das LG weise selbst darauf hin, dass die im Durchsuchungsbeschluss als Beweismittel angegebenen, aber nicht in der Akte abgelegten Erkenntnisse von keiner Bedeutung für die Annahme des Tatverdachts gegenüber dem B gewesen seien. Auch einer polizeilichen Mitteilung, nach der der B bereits in elf Fällen, unter anderem wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, in Erscheinung getreten sei, maß das LG wegen ihrer Unbestimmtheit keine Bedeutung bei.

Allein auf die Bewegungen und Standzeiten des Fahrzeugs des R, die in der polizeilichen Durchsuchungsanregung beschrieben waren, habe der Anfangsverdacht gegenüber dem B entgegen der Auffassung des LG jedoch nicht in einer verfassungsrechtlich vertretbaren Weise gestützt werden können. Denn die Bewegungen und Standzeiten des Fahrzeugs seien allein keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, dass der B Betäubungsmittel, noch dazu größere Mengen, für R aufbewahrt habe. Der Observation sei lediglich zu entnehmen, dass das Fahrzeug gegenüber der Wohnanschrift des B geparkt wurde, nicht aber, dass R dabei beobachtet worden wäre, wie er die Wohnung des B aufgesucht oder betreten hätte. Es sei nicht einmal festgehalten, ob R überhaupt sein Fahrzeug verlassen und wenn ja, in welche Richtung er sich anschließend zu Fuß weiterbewegt hatte. Zutreffend weise der B darauf hin, dass auch andere Anschriften im Umfeld seiner Wohnung für R fußläufig erreichbar gewesen seien. Erst recht sei nicht beobachtet worden, dass ihm etwas von einer anderen Person übergeben oder zugesteckt worden wäre. Der B selbst sei in den besagten Nächten offenbar gar nicht gesehen worden, und auch sonst führe der landgerichtliche Beschluss keine Anhaltspunkte dafür an, dass der B schon einmal im Kontakt zu R gestanden und diesen bei dessen Betäubungsmitteldelikten unterstützt hätte.

Praxishinweis

Der Entscheidung ist uneingeschränkt zuzustimmen.

Das BVerfG weist wiederholt darauf hin, dass das Gewicht des Wohnungsgrundrechts gem. Art. 13 Abs. 1 GG keine schematische Durchsuchungsanordnung gem. § 102 StPO rechtfertigt (vgl. bspw. BVerfG BeckRS 2020, 18935, BeckOK-StPO/Beukelmann, § 152 Rn. 4 mwN). Für die Praxis kann das folgende, vom BVerfG hier entwickelte Prüfschema angewendet werden:

  1. Liegen Ermittlungserkenntnisse über ein konkretes strafbares Verhalten des beschuldigten Wohnungsinhabers vor?
  2. Falls die Ermittlungserkenntnisse aus dem Verhalten anderer Personen herrühren, welcher konkrete Bezug ergibt sich in Bezug auf die konkrete Wohnung als Durchsuchungsobjekt (insbesondere tatsachenbezogene Hinweise auf einen Tatort oder ein Versteck)?
  3. Sind vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen bei der Verdachtshypothese ausgeschlossen worden?
  4. Ist die Anordnung (und Durchführung) der Wohnungsdurchsuchung angesichts des Verdachtsgrads verhältnismäßig im engeren Sinne?

BVerfG, Beschluss vom 21.07.2022 - 2 BvR 1483/19 (LG Offenburg), BeckRS 2022, 20743