Urteilsanalyse
BGH: Radfahrer muss nicht mit über Feldweg gespannten Stacheldraht rechnen
Urteilsanalyse
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Ein Radfahrer muss grundsätzlich nicht mit einem quer über einen Feldweg gespannten, ungekennzeichneten Stacheldraht rechnen. Deshalb trifft ihn kein Mitverschulden an einem Unfall, wenn er seine Fahrgeschwindigkeit auf ein solches Hindernis nicht einstellt und deshalb zu spät davor bremst. Dies hat der Bundesgerichtshof mit zwei Urteilen entschieden.

1. Jul 2020

Anmerkung von
Senator E. h. Ottheinz Kääb, LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 12/2020 vom 18.06.2020

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BGB §§ 823839; GG Art. 34; StVO § 3 I; LWaldG SH § 17 I; LJagdG SH § 26 I; ZPO § 189

Sachverhalt

Der Kläger war mit seinem Mountainbike im Sommer unterwegs in einem Gelände, das er nicht kannte. Über die Örtlichkeit hatte er sich vorher mit einer Karten-App informiert. Von einer Landstraße bog er in einen unbefestigten Feldweg ab, der als Sackgasse in einem Waldstück endete. Als er etwa 50 Meter auf dem Feldweg gefahren war, gelangte der Kläger zu einer Absperrung. Diese bestand aus zwei in der Mitte des Weges befindlichen vertikalen von unten nach oben gerichteten Holzlatten, an denen ein Verkehrszeichen 260 (Verbot für Kraftfahrzeuge) befestigt war. Diese beiden Latten wurden durch zwei waagrecht verlaufende Stacheldrähte in der Höhe von 60 und 90 cm gehalten. Die Stacheldrähte waren im Unterholz des Feldwegs befestigt worden.

Der Kläger erkannte sie zu spät, bremste, kam zum Sturz und blieb mit seiner Kleidung in den Stacheldrähten hängen, aus denen er sich nicht befreien konnte. Zweieinhalb Stunden später wurde er von dem zufällig vorbeikommenden Beklagten zu 2), dem am Unfalltag verantwortlichen Jagdpächter, gefunden, der Rettungsdienst und Polizei verständigte. Der Kläger wurde sehr schwer verletzt. Insbesondere erlitt er einen Bruch des Halswirbels und infolge dessen eine vollständige Querschnittslähmung unterhalb des 4. Halswirbels.

Der Kläger verlangt von der Gemeinde als Grundstückseigentümer und von den beiden Jagdpächtern Schadenersatz.

Rechtliche Wertung

Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen. Der Kläger sei nicht auf Sicht gefahren. Mit der Berufung hatte der Kläger teilweise Erfolg. Das Oberlandesgericht führte eine Beweisaufnahme durch. Es kam zu einem Mitverschulden des Klägers von 75%. Der Kläger erhielt also von seiner Forderung 25% zugesprochen. Dagegen wehrt sich der Kläger mit der vom Senat zugelassenen Revision. Soweit die Beklagten Anschlussrevisionen eingelegt hatten, wurde diese zurückgewiesen. Die Revision des Klägers dagegen hatte vorläufigen Erfolg. Das Berufungsurteil wurde aufgehoben, soweit zum Nachteil des Klägers erkannt wurde, und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Berufungsinstanz zurückverwiesen.

Das Revisionsgericht macht zunächst grundsätzliche Ausführungen zur Verkehrssicherungspflicht. Die Beklagten zu 2) seien für die Feldheckenabsperrung verantwortlich. Zäune zu errichten diene auch der Schaffung von Ruhezonen für das Wild.

Die Absperrung sei hier völlig missverständlich. Wenn für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrt werde, dann impliziere dies, dass Fußgänger und Radfahrer sich dort weiter bewegen dürften. Im Übrigen sei die Absperrung mit einem Stacheldraht in 60 und 90 cm Höhe unsachgemäß. Sie sei nicht deutlich zu erkennen.

Von einem Mitverschulden des Klägers könne nicht ausgegangen werden, soweit sich dieses darauf stütze, dass der Kläger zu schnell gefahren sei, dass er falsch reagiert habe, dass er aufgrund überhöhter Geschwindigkeit gestürzt wäre. Nur soweit das Berufungsgericht auch darauf hingewiesen habe, dass er auf unebenem Gelände statt der normalen Pedale Klickpedale benutzt habe, sei ein Mitverschulden denkbar. Mit diesem Vorbringen, das unter Umständen ein Mitverschulden des Klägers von vielleicht 25% rechtfertigen könne, habe sich das Berufungsgericht noch zu beschäftigen.

Alle übrigen Ausführungen des Berufungsgerichts zum behaupteten falschen Verhalten des Klägers lägen aber nicht auf der Ebene der Realität. Der Kläger sei nicht gehalten gewesen, seine Geschwindigkeit so zu wählen, dass er mit quer über dem Weg gespannten Drähten umgehen könne. Er habe mit solchen Hindernissen schlichtweg nicht rechnen müssen. Dass er möglicherweise falsch reagiert und zu scharf gebremst habe, sei möglich, aber in dem Moment, als die Gefahr sich dem Kläger bot, von ihm nicht mehr zu beherrschen gewesen.

Praxishinweis

Mit Radfahren außerhalb befestigter Radwege beschäftigt sich die Rechtsprechung sehr häufig. Mit Entscheidungen wie dieser zu quergespanntem Stacheldraht als Zaun und Absperrung wird sich die Rechtsprechung wohl nur ausnahmsweise zu beschäftigen haben. Der Revisionssenat macht aber sehr grundsätzliche Ausführungen zur angemessenen Geschwindigkeit und zu den Hindernissen. Allein deswegen ist die Entscheidung bemerkenswert.

BGH, Urteil vom 23.04.2020 - III ZR 251/17 (OLG Schleswig), BeckRS 2020, 11406