Urteilsanalyse
Betriebsrentenberechnung – Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter mit Überstunden
Urteilsanalyse
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Es verstößt nach Ansicht des BAG gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, wenn die Tarifvertragsparteien regelhafte und verstetigte Zusatzarbeit nicht für betriebsrentenfähig erklären, wohl aber die gleiche Arbeitszeit anderer Arbeitnehmer mit fester Arbeitszeit.

1. Jul 2021

Anmerkung von
RA Prof. Dr. Martin Diller, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 25/2021 vom 24.06.2021

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Sachverhalt

Der Kläger war bei einer Catering-Tochtergesellschaft der Lufthansa beschäftigt. Mit ihm war eine Abrufarbeitszeit von 40 Stunden pro Monat vereinbart, darüberhinausgehende Arbeitsstunden sollten mit dem durchschnittlichen Tarifentgelt vergütet werden. Tatsächlich arbeitete der Kläger weit über das vereinbarte Stundenbudget hinaus. In den letzten 10 Jahren vor dem Ausscheiden lag seine monatliche Arbeitszeit zwischen 114 und 170 Stunden, über weite Phasen entsprach sie der Normalarbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten.

Für den Kläger galten die Betriebsrenten-Tarifverträge der Lufthansa, nach denen nur die vereinbarte Regelarbeitszeit für die Betriebsrentenberechnung zugrunde zu legen war, nicht aber Mehrarbeit/Überstunden. Dementsprechend berechnete die beklagte Arbeitgeberin die Höhe der Betriebsrente auch nur auf Basis der vereinbarten 40 Stunden pro Monat. Der Kläger hingegen machte geltend, seine Betriebsrente sei auf der Basis der tatsächlich durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden zu berechnen. Arbeitsgericht und LAG wiesen die Klage ab.

Entscheidung

Die Revision des Klägers hatte beim BAG Erfolg.

Zwar betonte das BAG, dass die Tarifvertragsparteien einen verfassungsmäßig geschützten (Art. 9 GG) weiten Gestaltungsspielraum hätten und durchaus auch zu typisierenden Regelungen greifen könnten. Im vorliegenden Fall sei dieser Regelungsspielraum aber überschritten und die tarifliche Regelung wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG nichtig (§ 134 BGB). Zwar könne ein Tarifvertrag zur Altersversorgung durchaus vorsehen, dass im Regelfall Überstunden/Mehrarbeit bei der Betriebsrentenberechnung ebenso ausgeblendet werden wie unregelmäßig anfallende Vergütungsbestandteile und/oder Vergütungsbestandteile in wechselnder Höhe. Etwas Anderes gelte aber für verstetigte Mehrarbeit, die regelhaft in erheblichem Umfang anfalle. Im entschiedenen Fall hätte die tarifliche Berechnungsregel dazu geführt, dass ca. 75 % der vom Kläger geleisteten Gesamtarbeitszeit bei der Betriebsrentenberechnung ausgeblendet geblieben wäre. Der Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien sei überschritten, wenn sie auch solche Mehrarbeitszeiten bei der Betriebsrentenberechnung ausklammern. Insoweit komme es nicht darauf an, ob der Kläger sich auch auf das Diskriminierungsverbot zugunsten Teilzeitbeschäftigter aus § 4 Abs. 1 TzBfG berufen könne, denn jedenfalls sei schon Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Die daraus resultierende Teilnichtigkeit der Norm (§ 134 BGB) führe dazu, dass bei der Rentenberechnung des Klägers die tatsächliche Arbeitszeit zugrunde zu legen sei.

Praxishinweis

"Bad cases make bad laws!"

Dass im vorliegenden Fall das BAG dem Kläger Recht gab, wird man unter dem Gesichtspunkt der Einzelfallgerechtigkeit kaum beanstanden können. Aber für die Praxis ist das Urteil natürlich eine Katastrophe. Denn das BAG differenziert zwischen sporadisch anfallender Mehrarbeit, die bei der Betriebsrentenberechnung ausgeblendet werden kann, und "regelhaft anfallender verstetigter Mehrarbeit", die einbezogen werden muss, ohne auch nur mit einem Halbsatz darauf einzugehen, wie man das eine vom anderen abgrenzen soll. Kommt es auf die Dauer der Mehrarbeit (mehrere Monate, ein Jahr, mehrere Jahre) an? Ist der Umfang der Mehrarbeit (eine Stunde pro Woche / 10 Stunden pro Woche / 30 Stunden pro Woche) maßgeblich? Kommt es auf die Bandbreite der Schwankungen an? Oder ist eine Kombination von all dem erforderlich, d.h. es muss über einen langen Zeitraum hinweg erhebliche Mehrarbeit in im Wesentlichen gleichmäßigem Umfang anfallen? Diese Abgrenzung ist bedeutsam, weil traditionell in manchen Branchen die Tarifgehälter auf der Basis der tariflichen Vollarbeitszeit zu Hungerlöhnen führen (z.B. bei Berufskraftfahrern) und die Beschäftigten hier zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts existenziell auf Überstunden angewiesen sind. In solchen Branchen kann man missliebige Mitarbeiter durch Entzug von Überstunden empfindlich treffen, und es kommt dann zu Klagen auf Zuteilung von Überstunden.

Die beiden Vorinstanzen hatten noch den Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und die Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien hochgehalten. Das Bundesarbeitsgericht dagegen hat mit seinem Bestreben nach Einzelfallgerechtigkeit die Büchse der Pandora geöffnet. Die Praxis wird daran ihre Freude haben!

BAG, Urteil vom 23.02.2021 - 3 AZR 618/19 (LAG Hessen), BeckRS 2021, 12596