Aufgabe des Bundesgerichtshofs ist es, „die gesamte Bandbreite der in der Praxis zu lösenden Rechtsfragen“ höchstrichterlich zu entscheiden. Diesen Anspruch an das höchste deutsche Zivilgericht formuliert die Gesetzesbegründung zum Zivilprozessreformgesetz des Jahres 2002 ausdrücklich. Vor der Reform wurde diesem Anspruch nicht mehr genügt. Unter dem Regime der Wertrevision war der Zugang zum Revisionsgericht de facto nur bei Streitwerten von mehr als 60.000 DM eröffnet. Folge war, dass der BGH ausweislich der Gesetzesbegründung „die Aufgaben der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortbildung des Rechts nur noch partiell erfüllen“ konnte. Abhilfe für kleine Streitwerte tat Not und wurde ungeachtet der fortbestehenden Wertgrenze von 20.000 Euro für die Nichtzulassungsbeschwerde aufgrund einer geänderten Zulassungspraxis erreicht.
Alles gut also? Mitnichten. Denn dem BGH ging im Verlauf der letzten 20 Jahre die „gesamte Bandbreite der in der Praxis zu lösenden Rechtsfragen“ am anderen, nämlich am oberen Ende verloren. Zu diesem zutreffenden Befund kommen der ehemalige Vorsitzende des II. Zivilsenats des BGH Prof. Dr. Wulf Goette, die Hochschullehrer Prof. Dr. Mathias Habersack, Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Klaus J. Hopt und Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Hanns Prütting sowie der Rechtsanwalt beim BGH Prof. Hilmar Raeschke-Kessler in einem gemeinsamen Schreiben an den Bundesminister der Justiz Dr. Marco Buschmann. Es sei unbestritten, dass die staatlichen Gerichte und damit auch der BGH wichtige Teile des Unternehmensrechts an die Schiedsgerichtsbarkeit verloren hätten. Das Revisionsgericht könne seine Leitfunktion nicht mehr wahrnehmen. Als wesentlichen Grund erkennen die Autoren die restriktive, sich von den Zielen des Zivilprozessreformgesetzes entfernende Praxis der Nichtzulassungsbeschwerde. Es sei höchst bedenklich, dass der BGH auch evident fehlerhafte Berufungsurteile unbeanstandet lasse. Die Verfasser schlagen daher vor, das wirtschaftliche Gewicht einer Rechtssache sowie den offensichtlichen Rechtsfehler als weitere Zulassungsgründe ausdrücklich in § 543 ZPO aufzunehmen. Die geringfügige Mehrbelastung des BGH solle durch erweiterte Möglichkeiten zur Entscheidung durch Beschluss ausgeglichen werden.
Man kann dem Vorstoß nicht laut genug Beifall zollen. Ein sich de facto auf die Entscheidung von Verbraucherstreitigkeiten beschränkendes Revisionsgericht löst den an es zu stellenden Anspruch ebenso wenig ein wie vormals die Wertrevision. Ein Vakuum an Leitentscheidungen darf es auch im Unternehmensrecht nicht geben. Ihm entgegenzuwirken, bedarf es einer Steigerung der Attraktivität der staatlichen Gerichte, an der Spitze des BGH. Unbegründete Formelbeschlüsse, die Nichtzulassungsbeschwerden auch bei offensichtlichen Rechts- und Verfahrensfehlern zurückweisen, schaden dem Vertrauen in den Rechtsstaat und müssen der Vergangenheit angehören.
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